Erstausgabe der Frankfurter Rundschau: „Wir haben nicht genug Papier!“

Im August 1945 war mehr los, als in die Zeitung passte. Ein Blick in die Erstausgabe der Frankfurter Rundschau.
Clement Richard Attlee – schon mal gehört? Der Mann war Thema der ersten Schlagzeile der allerersten Frankfurter Rundschau. Gut zwei Monate nach dem Krieg hatte der langjährige Labour-Chef die britische Unterhauswahl gewonnen. Den konservativen Kriegspremier Winston Churchill kennen bis heute die Geschichtsbücher. Auf ihn folgte nun für sechs Jahre Attlee. Von dessen Start handelt die Schlagzeile der FR vom 1. August 1945.
Links oben auf der Titelseite das Bild Attlees. Darunter links oben ein Einspalter mit der Überschrift Ehrenvolle Begrüßung. Aber die galt nicht dem neuen Premier in London, sie galt der FR selbst: Ehrenvolle Begrüßung der Frankfurter Rundschau durch die Militärregierung. Abgedruckt ein Schreiben, unterzeichnet vom US-Offizier Robert K. Phelps. Der zentrale Satz: „Das Erscheinen der Zeitung, der ersten deutschen Zeitung, die von Deutschen in der amerikanischen Besatzungszone herausgegeben wird, zeugt von dem Vertrauen, das die Militärregierung in das deutsche Volk setzt, dass es sich auf eine demokratische Lebensweise und die Vorrechte eines freien Volkes umstellen wird.“
Wenn man diese vier FR-Seiten – mehr waren es nicht – heute nochmal liest, finden sich viele Dokumente einer so ganz anderen Zeit. Nicht nur, 80 Jahre vor Trump, die Nachricht: Senat in Amerika ratifiziert Weltfriedenssatzungen der Vereinten Nationen. Daneben: Amerikaner kündigen massive Luftangriffe auf Japan an. Die beiden Atombombenabwürfe (6. und 9. August) standen noch bevor.
Die erste FR: Mehr Nachrichten als bedruckbare Seiten
Die Frankfurter Getreidebörse hat eröffnet, in Wiesbaden werden aus Behörden entlassene Nazis zu Instandsetzungs- und Säuberungsarbeiten eingesetzt, in Gießen werden Arbeitslose zum Anpacken bei Aufräumungsarbeiten aufgefordert. Auf Seite 4 porträtiert die erste FR sehr kritisch den prominenten Fußballer Rudi Gramlich, der Nazi, SS-Untersturmführer und 1939–43 Eintracht-Präsident gewesen war und dem man „keine Träne nachweinen“ werde (der aber später dann doch nochmal Eintracht-Ehrenpräsident wurde, bis ihm das Amt 2020 posthum aberkannt wurde). Und dann die Notiz In eigener Sache: Mindestens zehn Seiten hätte man füllen können – „aber wir haben nicht genug Papier!“.

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Der Antifaschismus der FR wird ab dieser ersten Ausgabe deutlich. Für den Sport wie für die ganze Gesellschaft wird nach der Zeit des Militarismus ein grundlegender Wandel gefordert. Daneben steht freilich ein anderes Zeitdokument, das zeigt, wie lang mancher Weg noch sein würde. Emily Kraus-Nover hat unter der Überschrift „… und ein Wort an die Frau“ einen Text geschrieben, der Mut zum neuen Leben ganz klassisch-konservativ übersetzt, als Konzentration auf die Familie, auf Heim und Herd. Auf dass die Frau nach dem deutschen Zusammenbruch – der Begriff war damals noch sehr üblich für die Befreiung von den Nazis – für den Mann und die Kinder wieder Trost, Hilfe und Zuflucht sei.
Die sieben Herausgeber der ersten FR-Ausgabe, lizensiert von den US-Militärs, waren allesamt Männer. „Zwölf Jahre lang“, schrieben sie „zum Geleit“, sei das Leben beherrscht gewesen „von der Lüge des Goebbels und seiner Kreaturen“. Deshalb gebe es jetzt „kein einfaches Anknüpfen“ an die Jahre vor 1933. Die Lüge habe „den deutschen Volkscharakter in verheerender Weise angegriffen“. Sie sei auch jetzt noch „eines der vielen Hindernisse zum Wiederaufbau“ (das war der gängige Begriff statt Neuaufbau). Und dann der Kern: „Die Frankfurter Rundschau wird ihren Beitrag leisten, um dieses Nazi-Übel radikal auszumerzen.“
Mit anderen Worten: Sie wussten, es war noch da. Sie spürten, wie groß das Ziel einer offenen, demokratischen Gesellschaft war. Sie hofften auf einen endgültigen Erfolg.
80 Jahre Frankfurter Rundschau
Am 1. August 1945 erschein die erste Ausgabe unserer Zeitung. Unser Onlinedossier FR80 blickt zurück auf die Geschichte, beschreibt die aktuelle Lage der Zeitung – und stellt das Programm unserer politischen Geburtstagsfeier am 20. September vor, zu der Sie herzlich eingeladen sind.
Die vier Folgen unserer Historie:
Teil 1: Holpriger Start im August 1945 - die erste Frankfurter Rundschau entstand in den Trümmern des Frankfurter Zeitungsviertels. Zunächst zweimal die Woche. Und in einer streitenden Redaktion.
Teil 2: Pflichtlektüre für die 68er - Nähe und Distanz prägen das Verhältnis der FR-Redaktion zur außerparlamentarischen Opposition.
Teil 3: Eine Zeitung in Not - die FR wird mehrfach spektakulär gerettet.
Teil 4: Die Ippen-Jahre seit 2018 - Eigenständigkeit wird großgeschrieben, auch in Zeiten zahlreicher Kooperationen.
Weitere Inhalte im Dossier (Auszug):
Die FR und ihr Grundgesetz: Die Leitlinien aus der Ära von Karl Gerold lesen sich wie geschrieben für die Gegenwart. Die Frankfurter Rundschau ist nicht neutral – sondern antifaschistisch, linksliberal und zuweilen zornig. Ein Essay von Karin Dalka und Michael Bayer.
Zudem: 80 aufregende Jahre - die wichtigsten Stationen der Frankfurter Rundschau in unserer prägnanten Chronik.