Geschichte der FR: Pflichtlektüre für die 68er

Nähe und Distanz prägen in den Sechziger und Siebziger Jahren das Verhältnis der Frankfurter Rundschau zur außerparlamentarischen Opposition.
In den 1960er Jahren begann der Aufstieg der FR zu einem bundesweiten Leitmedium. Katalysatoren waren die Proteste gegen die Große Koalition und die Studentenbewegung. Der einstige FAZ-Journalist Jürgen Busche stellte fest: „Die Frankfurter Rundschau war besser als alle ihre publizistischen Rivalen“. Sie war „das Blatt, das man kennen musste, wenn man mitreden wollte“. Ende November 1967 zählte die FR 6299 Abonnements von Studierenden. Die Zahl stieg schnell.
Besonderen Anteil an der Profilierung hatte der stellvertretende Chefredakteur Karl Hermann Flach – Symbolfigur für den sozialliberalen Aufbruch der FDP und Vordenker der SPD-FDP-Koalition von Willy Brandt und Walter Scheel. Er entwickelte für die Zeitung das Label „links-liberal“ und wurde zum Mentor der zweiten Redaktionsgeneration.
Die Ära Karl Hermann Flach
Ex-Chefredakteur Roderich Reifenrath erinnert sich, die Redaktion habe die Rolle und Funktion der 68er-„Revolutionäre“ für die Gesellschaft unter Flach früh erkannt. „Der eher sanfte, zum druckreifen Vortrag befähigte Liberale verlor auch in aufgeheizten Auseinandersetzungen selbst dann nicht die Contenance, wenn er als Scheißliberaler angegiftet wurde.“

Im Jahr 1971 kehrte Flach unter Walter Scheel als Generalsekretär der FDP in die Politik zurück und veröffentlichte sein Buch „Noch eine Chance für die Liberalen“. Darin skizzierte er einen modernen Liberalismus und verlangte eine Reform des Kapitalismus gegen die wachsende Ungleichheit. Und er stellte den Umweltschutz über Gewinnstreben.
Pointierter als die meisten anderen Zeitungen war die FR gegen Aufrüstung, ergriff gegen den Vietnamkrieg Partei, warb für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und früher als andere schrieb sie DDR ohne Anführungszeichen. In der Innenpolitik war die FR auf drei Säulen stark: Rechtspolitik, Bildungspolitik, Sozial-, Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik. Die Auslandsberichterstattung fokussierte den Globalen Süden und eine Friedenspolitik zur Überwindung des Kalten Kriegs.
In diesen Jahren war die FR auch ökonomisch erfolgreich. Am 2. November 1968 enthielt die Zeitung so viele Anzeigen, dass sie erstmals auf mehr als hundert Seiten Umfang kam.
Die Frankfurter Rundschau verstand schnell die Anliegen der außerparlamentarischen Opposition
Distanz und Nähe prägten in diesen Jahren das Verhältnis der Frankfurter Rundschau zur außerparlamentarischen Opposition (APO). „Als die Studenten 1968 begannen, die Straßen zum außerparlamentarischen Forum umzufunktionieren, war die Frankfurter Rundschau wahrscheinlich die erste Zeitung im Land, die verstanden hat, was da symbolisch in Wahrheit geschah“, so Reifenrath.
„Im Protest gegen den Vietnamkrieg, im Rebellieren gegen eine Vätergeneration, die das Dritte Reich verdrängt hatte, im Zorn über die Reformunwilligkeit der Republik, über autoritäre Strukturen an den Hochschulen und Bildungsnotstände hatte die FR viel Verständnis für die jungen Leute. Als die Straßen großer Städte in Schlachtfelder verwandelt wurden und in Wort und Schrift feinsinnige Unterscheidungen zwischen Gewalt gegen Menschen und Gewalt gegen Sachen kursierten, riss der Faden, was zur Folge hatte, dass gelegentlich auch das Rundschauhaus die Wut von draußen zu spüren bekam.“

80 Tage gratis ePaper lesen!
Die Frankfurter Rundschau steht seit 80 Jahren für eine linksliberale Haltung in der Medienlandschaft. Feiern Sie mit uns: Lesen Sie 80 Tage gratis und unverbindlich die digitale Zeitung und verpassen Sie nicht die große Jubiläumsbeilage. Jetzt sichern.
Die FR war nicht frei von inneren Widersprüchen. Die Gründergeneration, die in Verlag und Redaktion das Sagen hatte, waren Männer, die in der Nazizeit aufgewachsen waren. Sie hatten den Krieg als Kinder und Jugendliche nicht nur zu Hause miterlebt, sondern selbst noch mitmachen müssen – oder waren emigriert. Vielen von ihnen blieb die Denkwelt der Studentinnen und Studenten eher fremd.
Das ökonomische Konzept der FR war, dass sie erscheinen konnte, obwohl sich vor allem die Ausgaben von Montag bis Freitag nie „rechneten“. Viele Jahre waren es die Samstagausgaben mit den dicken Anzeigenpaketen, vor allem dem Stellenmarkt, die die Ausgaben von Montag bis Freitag subventionierten. Zudem lebte die Zeitung von den Auftragsarbeiten der Druckerei.
Bis Mitte der 70er Jahre waren Druckerei und Zeitung in einem Haus, in Frankfurt an der Traditionsadresse Große Eschenheimer Straße 16-18. Als es hier zu eng wurde, wurde für 20 Millionen Mark eine neue Druckerei am Waldrand von Neu-Isenburg gebaut.

Doch der Neubau, Lohnerhöhungen und Steigerungen bei den Papierpreisen machten der FR schwer zu schaffen. Die überregionale Auflage von knapp 50 000 Exemplaren bei einer Gesamtauflage von 185 000 schlug mit monatlich 700 000 Mark minus zu Buche. In dieser Krise retteten 1976 der Springer-Konzern und die gewerkschaftliche Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) die FR: Springer mit einem langfristigen Druckvertrag für „Bild“, „Welt“ und „Welt am Sonntag“, die BfG mit einem Kredit für den dafür notwendigen Ausbau der technischen Kapazitäten.
Werner Holzer führt die Redaktion als Chefredakteur durch Diskussion und Anregung
Von 1973 bis 1992 prägte Werner Holzer die Frankfurter Rundschau als Chefredakteur. Seine Berufung hatte Gerold vor seinem Tod verfügt. Holzer, als Soldat noch im April 1945 schwer verwundet, war von 1953 bis 1964 Chef vom Dienst gewesen, danach als Sonderkorrespondent für die FR und die „Süddeutsche Zeitung“ in der Welt unterwegs. Er machte sich einen Namen als Stimme der „Dritten Welt“, wie man seinerzeit sagte – weil er Wert darauf legte, diesen Ländern zu mehr Selbstbewusstsein im Umgang mit den Industrienationen zu verhelfen.
Auf Reisen durch Afrika, Asien, Lateinamerika und auch die USA beobachtete und analysierte Holzer die Rolle der Industrieländer und ihre Interessen gegenüber den Entwicklungsländern. In vielen Reportagen berichtete er über die Auswirkungen der Kolonialzeit sowie über ethnische Konflikte. Er schrieb darüber Bücher und wurde mehrfach ausgezeichnet.

„Holzer führt seine Redaktion durch Diskussion und Anregung. Auch wenn er in der Sache hart auftritt, bleibt er in der Form immer verbindlich. Ein autoritärer Chefredakteur wäre bei dieser Zeitung undenkbar“, meinte der Journalist Ludwig Maaßen 1981 im Bayerischen Rundfunk.
Das Feuilleton mit den drei prägenden Kritikern Peter Iden, Wolfram Schütte und Hans-Klaus Jungheinrich nutzte die innere Liberalität in der Redaktion seit den 70er Jahren für eigene Akzente. Über das kritisch-distanzierte Rezensieren, das Analytisch-Bilanzierende hinaus war ihr Journalismus zugleich engagierte Kulturpolitik, die Impulse gab und künstlerisch-ästhetische Zeichen im Kulturbetrieb setzte. Insbesondere Iden und Schütte waren Beobachter und Akteure, wertende Instanzen und inspirierende Mentoren in Personalunion.
Zum Autor
Wolf Gunter Brügmann arbeitete von 1968 bis Februar 2010 für die FR. Von 1984 bis 1994 leitete er die Nachrichtenredaktion. Auch im Ruhestand lässt ihn die FR nicht los. Keiner kennt die Geschichte der Zeitung so gut wie er.
Im 80er-Jahrzehnt erkannte die FR beim Thema Umweltschutz die Zeichen der Zeit zunächst nicht so recht. Sie stieg dann aber so intensiv ein, als sei sie von Anfang an vornedran gewesen. Jungredakteur Joachim Wille begann, Umweltschutz auf der Seite „Aus aller Welt“ zu pflegen. Holzer mokierte sich darüber, aber die Nachrichtenredaktion bestärkte Wille und platzierte das Umweltthema auch auf der Titelseite.
Der konfliktreiche Umgang mit der Friedensbewegung
Konfliktreich war der Umgang der FR mit der Friedensbewegung. Die Auseinandersetzungen in der Redaktion drehten sich vor allem um die Nachrüstung (Pershing-2-Raketen). Bei der Großdemonstration für ein atomwaffenfreies Europa 1981 im Bonner Hofgarten kam die Teilnahme aus der FR-Redaktion allerdings einem Betriebsausflug gleich.
Der Irakkrieg 1990/91 ließ dann in der FR eine bis dahin unbekannte Spannung zwischen Pazifismus und Bellizismus aufflammen.
Mit neuen Formen und Inhalten sollten jüngere Leute gewonnen werden. Zunächst mit einer neuen Wochenendbeilage. Das erste Editorial enthält unverblümt einen Seitenhieb gegen die traditionelle Leserschaft, eine Absage an „Bedenkenträger mit den ewig gerunzelten Sorgenfalten über das Unvermögen in der Welt“. Zugleich sollten anspruchsvolle Ressortbeilagen, täglich sechs Seiten, die traditionelle Leserschaft halten.
Die „FR am Abend“ wurde neu aufgestellt, sie hieß nun „City“. Als gehobene Boulevardzeitung mit viel Service und Veranstaltungshinweisen sollte sie vor allem jüngere Leute erreichen, die im Umland wohnen, „in den Hochhäusern“ arbeiten und wissen wollen, was die Stadt an „Lifestyle“-Aktivitäten zu bieten hat. Für „City“ wurde eine viel zu große und zu teure Redaktion eingerichtet. Dieses verlustreiche Unternehmen wurde ein Riesenflopp.
80 Jahre Frankfurter Rundschau
Am 1. August 1945 erschein die erste Ausgabe unserer Zeitung. Unser Onlinedossier FR80 blickt zurück auf die Geschichte, beschreibt die aktuelle Lage der Zeitung – und stellt das Programm unserer politischen Geburtstagsfeier am 20. September vor, zu der Sie herzlich eingeladen sind.
Dieser Text ist der zweite Teil unserer Historie. Weitere Folgen:
Teil 1: Holpriger Start im August 1945 - die erste Frankfurter Rundschau entstand in den Trümmern des Frankfurter Zeitungsviertels. Zunächst zweimal die Woche. Und in einer streitenden Redaktion.
Teil 3: Eine Zeitung in Not - die FR wird mehrfach spektakulär gerettet.
Teil 4: Die Ippen-Jahre seit 2018 - Eigenständigkeit wird großgeschrieben, auch in Zeiten zahlreicher Kooperationen.
Weitere Inhalte im Dossier (Auszug):
Die FR und ihr Grundgesetz: Die Leitlinien aus der Ära von Karl Gerold lesen sich wie geschrieben für die Gegenwart. Die Frankfurter Rundschau ist nicht neutral – sondern antifaschistisch, linksliberal und zuweilen zornig. Ein Essay von Karin Dalka und Michael Bayer.
Im August 1945 war mehr los, als in die Zeitung passte. Ein Blick in die Erstausgabe der Frankfurter Rundschau von Richard Meng.
Zudem: 80 aufregende Jahre - die wichtigsten Stationen der Frankfurter Rundschau in unserer prägnanten Chronik.