Inklusion ist kein Trend, der sich vermarkten lässt

Greta Niewiadomski engagiert sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Ihr selbst fehlt von Geburt an die rechte Hand. Sie sagt: Für echte Gleichstellung müssen wir den Kapitalismus grundsätzlich anzweifeln. Warum das?
Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich bin keine Gegnerin von Inklusion. Gewissermaßen vermarkte ich sogar meine eigene Be_hinderung, um mehr Aufmerksamkeit für Menschen zu schaffen, die seit Jahrhunderten ausgegrenzt und diskriminiert wurden und werden. In dieser Absicht handeln vorgeblich auch viele Firmen und Organisationen. Allerdings sind diese erstens nicht selbst betroffen, und zweitens nutzen sie die Existenz von Menschen mit Be_hinderung oft unter dem Deckmantel von „Diversity“ und „Inklusion“ aus und verwenden sie zur eigenen Profitmaximierung. Vergleichen lässt sich dies mit „Greenwashing“ und macht im Prinzip das Gegenteil von dem, was es verspricht.
Mir selbst fehlt seit meiner Geburt die rechte Hand, und erst seit etwa zwei Jahren nutze ich eine bionische Handprothese, die sehr futuristisch aussieht. Doch erst seitdem ich nicht mehr einhändig bin – was aus gesellschaftlicher Sicht leider immer noch für erschrockene Blicke sorgt –, begegnen mir die Menschen mit positivem Erstaunen und Interesse.
Zum einen sehe ich es kritisch, inwiefern ich jetzt oft ungefragt als Inspiration wahrgenommen werde, und zum anderen ist es sehr verletzend, dass dies in vielen Kontexten nur mit meinem elektrischen Gadget möglich ist. Ich bekomme nun Anfragen für Fotoshootings von Modelabels, die meine Be_hinderung plötzlich für „gesellschaftstauglich“ halten, was die Frage nach einer Definition dieses Begriffs aufwirft. Müssen körperliche Abweichungen ästhetisch sein? Und wie lange wird es noch dauern, bis wir als Gesellschaft begreifen, wie schön es ist, dass alle Menschen unterschiedlich aussehen? Solange wird es keine Inklusion geben und auch kein ernsthaftes Interesse daran, dass Menschen mit Be_hinderung in der Gesellschaft angemessen wahrgenommen und gleichgestellt werden.

Leider ist mir keine adäquate Bezeichnung bekannt, um Menschen mit Be_hinderung zu benennen. Dies könnte nicht zuletzt daran liegen, dass es sich um Individuen handelt, die sich unmöglich auf einen (noch dazu negativ konnotierten) Begriff reduzieren lassen. Viele Menschen, die mit diesem sensiblen Thema kaum konfrontiert sind, ärgern sich manchmal, dass es keinen wirklich „politisch korrekten“ Begriff dafür gibt. Sie fühlen sich unwohl damit, andere mit einem Label zu versehen, das auf Schulhöfen bewusst als Beleidigung verwendet wird. Und das ist in der Tat ärgerlich und sollte zumindest erahnen lassen, wie es sich anfühlt, mit diesem Begriff wirklich selbst gemeint zu sein.
Ich nutze die Bezeichnung „be_hindert“, die impliziert, dass nicht der Mensch, sondern die Umwelt ein Problem darstellt. Dieses Problem ist nicht absolut, sondern veränderbar. Außerdem handelt es sich um eine Selbstbezeichnung, die jeden Menschen betreffen kann und zudem situationsabhängig ist. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Ich kann einhändig nur eingeschränkt Gitarre spielen. Außerdem bin ich sehr unmusikalisch und kann daher auch nicht gut singen. Ich bin also sowohl beim Gitarrespielen, als auch beim Singen be_hindert, was keine Rolle spielt, da ich weder das eine, noch das andere ausüben möchte.
Der Kapitalismus orientiert sich an den Stärksten - das ist fatal
Beim Rollstuhlbasketball bin ich aufgrund meiner mangelnden Übung be_hindert, während ein Rollstuhlbasketball-Profi hervorragend spielen kann. Wir formen also aktiv eine Umwelt, die uns als Menschen mehr oder weniger be_hindert, und es sollte unser gemeinsames, solidarisches Ziel sein, diese möglichst barrierefrei zu gestalten.
Meiner Meinung nach müsste echte Inklusion jeden Menschen miteinschließen, unabhängig von äußerlichen Merkmalen, Fähigkeiten, Meinungen und Abstammungen. Inklusion sollte alle Menschen auf dieselbe Stufe heben, im Optimalfall also jegliche Hierarchien unterbinden, und zudem Handlungsspielräume lassen, um die gemeinschaftliche Umsetzung eines Projekts, eines Zusammenlebens oder Arbeitens zu ermöglichen.
Leider steht bei aktuellen Inklusionsprojekten aber oft nicht der Mensch im Vordergrund, sondern sein Marktwert. Menschen werden dabei häufig als abhängig und hilfsbedürftig klassifiziert, wodurch ein Umgang auf Augenhöhe unmöglich ist. So entstehen große Selbstzweifel auf der einen Seite und eine ungesunde, erhabene Weltsicht auf der anderen. Das ist das komplette Gegenteil von Inklusion und leider nur ein Zeichen dafür, wie solidarisch wir oftmals auf Ungerechtigkeiten reagieren – gar nicht.
Es ist schon so viel erreicht - aber noch lange nicht genug
Inklusion sollte rein nach Definition nicht nur wenigen Menschen helfen, sondern allen, und ist somit vor allem im Kindesalter von enormer Bedeutung. Dabei stolpern wir jedoch über ein gewaltiges Hindernis: den Kapitalismus. Lassen Sie mich das kurz erläutern. Der Kapitalismus ist ein System, das von Leistung, Wachstum und Ungerechtigkeiten auf Kosten vieler lebt. Ein System, das sich an den aus ökonomischer Sicht „Stärksten“ orientiert und wenig Rücksicht auf psychische Gesundheit, Gleichberechtigung und Empathie nimmt, solange dies für den kurzfristigen Aufschwung nicht zufällig von Bedeutung ist.
Inklusion ist aber kein Trend, der sich mehr oder weniger gut vermarkten lässt. Und daher brauchen wir neben einem radikalen Systemwandel auch ein langfristiges Umdenken innerhalb des Kapitalismus. Ein erster Schritt könnte sein, dass wir uns das Problem bewusstmachen, uns nicht mit Floskeln wie „Jammern auf hohem Niveau“ abfinden oder davon ausgehen, dass gescheiterte Gleichstellung nur wenige Menschen betrifft. Auch die Bemerkung, dass die Situation für be_hinderte Menschen früher noch schlimmer war, löst keine akuten Probleme und irritiert mich regelmäßig. Früher hatten die Menschen noch keine Telefone oder eine Kanalisation – soll dies ernsthaft ein Argument dafür sein, sich mit bereits Erreichtem zufriedenzugeben?
Im nächsten Schritt müsste die eigene Wahrnehmung von Menschen mit und ohne Be_hinderung überprüft und gegebenenfalls überarbeitet werden. Wie auch bei rassistischen und sexistischen Aussagen im Netz müssen wir be_hindertenfeindlichen – sogenannten ableistischen – Inhalten konsequent entgegentreten. An dieser Stelle nenne ich die Tatsache, dass sich prominente Personen gerne mit rollstuhlfahrenden Kindern fotografieren lassen, nur als ein Beispiel von vielen: Natürlich sind nicht die Kinder das Problem, was ganz einfach darin deutlich wird, dass diese nicht selbst verantwortlich für ihre Situation sind. Eigentlich offensichtlich.
Unser Wirtschaftssystem beutet gnadenlos aus
Und ja: Echte Inklusion erfordert Zeit und kostet Geld. Auch wenn sie aus sozialer Sicht allen zugutekommt, ist sie für den Kapitalismus und die Profitmaximierung unerheblich oder sogar lästig. Ein Beispiel: In meiner Schule gab es ein Hybrid-Inklusionssystem, bei dem wir Fächer wie Sport, Musik und Kunst mit sogenannten Kooperationsschüler:innen gemeinsam hatten. Am meisten profitierten davon Kinder, die unter enormem Leistungsdruck standen und deren übertriebener Ehrgeiz sich bereits negativ auf ihr Sozialverhalten auswirkte.
So kam es im Sportunterricht dazu, dass sich beim Ballspielen an den Langsamsten orientiert wurde. Das Spiel lief sehr rücksichtsvoll ab, und alle durften mal im Mittelpunkt stehen. Wir wurden nicht ausgebremst – wir wurden dazu ermutigt, zu teilen, umsichtig zu sein und auch zu verzichten, um dann gemeinsam Spaß zu haben. Unsere Erfolge waren nicht die Siege, sondern das Innehalten, den Ball abgeben und sich mit den anderen zu freuen, wenn sie vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben einen Pass zugespielt bekamen und ihnen zugejubelt wurde. Daran sind wir alle gewachsen, nur eben nicht im marktwirtschaftlichen Sinn.
Be_hinderte Menschen sind eine Bereicherung - keine Belastung
Leider ist ein solcher Erfolg von Inklusionsprojekten die Ausnahme, und auch in diesem Fall waren die Beteiligten nicht konsequent gleichgestellt. Uns wurde häufig vermittelt, den anderen Schüler:innen zu helfen, und weniger, dass wir alle gleichermaßen voneinander lernen könnten.
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Darin sehe ich das Problem. Der Kapitalismus, wie wir ihn leben, hat kein Interesse daran, dass wir Rücksicht nehmen und anstreben, dass es allen gut geht. Der Kapitalismus würde ohne Ausbeutung und Ungerechtigkeiten wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen, denn glückliche Menschen schaden ihm. Ist das nicht absurd? Wir teilen nur, wenn wir damit das Gesamtergebnis vergrößern, und ein Lächeln, das sich nicht verkaufen lässt, ist aus finanzieller Sicht nichts wert. Das führt dazu, dass be_hinderte Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und als Belastung statt als Bereicherung wahrgenommen werden. Deutlich wird dies anhand der Tatsache, dass in Deutschland etwa zehn Prozent der Menschen eine Be_hinderung haben, und aus eigener Erfahrung weiß ich, dass kaum ein Freundeskreis diese Zahl widerspiegelt. Menschen mit und ohne Be_hinderung werden vom Kapitalismus be_hindert, der echte Inklusion verhindert.