Deutschlands erste Radprofessorin: „Jeder Radweg ist ein Politikum“

Jana Kühl ist Deutschlands erste Professorin für Radverkehrsmanagement. Im Interview spricht sie über die hart umkämpften Straßen, die deutsche Liebe zum Auto und warum Tempo 30 in der Innenstadt nicht nur für Fahrradfahrer besser wäre
Frau Kühl, wie viele Feinde haben Sie sich schon gemacht, seit Sie die erste Radprofessur Deutschlands übernommen haben?
Ich habe aufgehört, unsachliche Kommentare zu lesen, weil das auch an die Substanz geht. Allein die Radprofessur ist eine Provokation. Das Rad, auch der Fußverkehr bekommen allmählich eine stärkere Position in der Verkehrsplanung – und in der Folge mehr Platz. Das ist für viele eine Erschütterung, weil sich bisher alles um Autos drehte, das Leitbild die autogerechte Stadt war. Jetzt wird daran gerüttelt. Deutschland ist eine Autonation, auch wenn CSU-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer verspricht, Deutschland bis 2030 zum Fahrradland zu machen. Die einen halten aus Leidenschaft fürs Auto dagegen, die anderen sind verunsichert. Wie soll ich in die Stadt kommen?
Sie selbst fahren mit dem Rad neun Kilometer bis ins Büro, wenn sie nicht zuhause arbeiten. Das ist aber nicht für jede und jeden was. Was muten Sie den Leuten zu?
Ich bin nicht übermäßig sportlich. Aber wenn man sich regelmäßig bewegt, sind neun Kilometer nicht schwer. Die Bewegung ist zudem gut für die eigene Gesundheit. Natürlich ist es unterschiedlich, was sich jeder zutraut und kann. Aber fünf Kilometer mit dem Fahrrad sind für eine gesunde Person eigentlich nie ein Problem. Wenn man Auto, Bahn, Rad vergleicht, dann ist das Rad gerade in der Stadt meist schneller. Bei einer Distanz von etwa zehn bis 15 Kilometern kann auch das E-Bike gut sein. Keine Staus, keine Parkplatzsuche. Am umweltverträglichsten ist es sowieso.
Fahrradland Deutschland? Mehr als eine Illusion
Wie komme ich von Offenbach nach Frankfurt?
Auf dem Radschnellweg zum Beispiel. Im Rhein-Main-Gebiet, in so einem dicht besiedelten Ballungsgebiet mit vielen Pendlern, muss aber auch das Angebot an Bussen und Bahnen besonders ausgebaut werden. Dann können Sie mit dem Rad zum Bahnhof fahren, es dort sicher abstellen und in den Zug steigen. Und vom Bahnhof in Frankfurt nehmen Sie beispielsweise die U-Bahn.
Müssen Autobahnen umgewidmet werden – etwa die A66?
Deutschland leidet an Flächenfraß. Da wäre es aus ökologischer Sicht gut, nicht einfach noch mehr zuzupflastern. Aber eine solche Debatte führt derzeit nicht weiter. Noch werden in Deutschland Autobahnen gebaut, da ist ein Rückbau kaum vorstellbar ist, Strukturen für das Auto gelten als unantastbar. Wenn es nicht alte, längst aufgegebene Bahngleise gibt, werden für gute breite Radverbindungen zwischen den Städten meist neue Wege gebaut.
Radweg schlägt Natur?
Mit neuer Infrastruktur wird immer Boden versiegelt, es werden Ressourcen beansprucht. Das ist ein Dilemma. Aber wenn wir keine Flächen aus dem Kfz-Verkehr umwidmen, werden wir um den Bau nicht herumkommen. Es gibt bisher viel zu wenig gute und sichere Radwege. Am Ende wird es in der ökologischen Gesamtrechnung auch sinnvoll sein, weil so der Autoverkehr reduziert werden kann.
Radwege reichen nicht - auch der ÖPNV muss ausgebaut werden
Sie rechnen sich das schön?
Natürlich sollte unbedingt so wenig wie möglich versiegelt werden. Nur wird bisher eher versucht, den Kfz-Verkehr nicht zu beeinflussen, also nichts wegzunehmen. Aber wenn sich mit dem Rad, aber auch mit Bus und Bahn, bequem von A nach B kommen lässt, wird der Kfz-Verkehr abnehmen.
Noch bricht der Pkw Bestand Rekord für Rekord, derzeit sind es 48 Millionen.
Das zeigt sehr gut, wo wir in der Verkehrswende stehen. Wenn der Ausbau der Alternativen zum Auto, das Carsharing, der ÖPNV, ernsthaft betrieben wird, werden nicht mehr so viele Pkw gebraucht. Und dann braucht es auch keine neuen Straßen und Autobahnen mehr, die Natur und Landschaft viel mehr zerschneiden als Radwege.
Wie viel Gehör finden Sie – zumal Sie kein Bauingenieursstudium gemacht haben wie viele sonst in der Verkehrsplanung. Sie sind Geographin mit Schwerpunkt Soziologie.
Das weckt Eitelkeiten, ja. Aber die Frage ist, wie wir mehr Radwege bekommen für eine klimafreundliche Mobilität. Da geht es nicht nur ums Bauen. Denn bis gebaut wird, ist es ein langer Weg. Jeder Radweg ist ein Politikum. Dann wird zum Beispiel gefragt: Wem nehme ich etwas weg, wen bevorteile ich?

Der Anteil des Radverkehrs macht heute gerade mal elf Prozent aus. Und Umverteilung macht Ärger – und dann?
Am hilfreichsten sind Beispiele, die zeigen, was man gewinnt, wenn nicht allein Autos den Raum dominieren, die klar machen, wie es gehen kann. Es geht nicht darum, jemanden zu vergraulen, sondern mehr Platz für alle zu schaffen. In autoarmen Straßen etwa entsteht eine neue Qualität, sich ohne Auto zu bewegen, zu verweilen. Kinder können auch in der Stadt spielen.
Wer macht es denn schon gut?
Viele große Städte. Barcelona hat Superblocks eingerichtet – der Slogan war „Lasst uns die Straßen mit Leben erfüllen“. Da geht es um vier bis neun Häuserblöcke. Die Autos dürfen zwar reinfahren, sind dort aber nur zu Gast. Eigentlich werden sie außen rumgeleitet. Paris hat beide Uferstraßen an der Seine für Autos gesperrt und für Fußgänger und Radfahrer geöffnet. Aber natürlich muss man immer auch noch zur Arbeit kommen können. Mit ein bisschen Flexibilität funktioniert das auch.
Manchmal sind es nur ein paar Schritte mehr, die zu gehen sind, weil der Parkplatz verlegt wurde. Konflikte darf man allerdings auch nicht ignorieren, da müssen Alternativen entwickelt werden, sonst fühlen sich die Leute vor den Kopf gestoßen.
Autos gegen Fahrräder: Der emotionale Kampf um die Straße
Warum ist das alles so emotional?
Radfahrende haben wenig Schutz, kein Blech, keine Hülle rundherum. Gleichzeitig fehlen Radwege oder sie enden unverhofft. Radfahrende müssen von vornherein um ihren Platz auf der Straße kämpfen. Zumindest theoretisch. Das scheint aber schon zu reichen, um beim Gegenüber das Gleiche auszulösen: Ich muss meinen Platz verteidigen und möchte nicht durch lästige Fahrräder ausgebremst werden. Autofahrer fühlen sich angegriffen, die Radfahrenden kommen scheinbar von überall her, brauchen Aufmerksamkeit. Das sorgt für Stress. Es wird ruppig. Das wird sich nicht legen, solange Radfahrende nicht ihren geschützten Platz auf der Straße haben, möglichst abgetrennt von den Autos.
Wie lassen sich denn Konflikte entschärfen– mit Tunneln?
An gefährlichen Kreuzungen, dort wo es voll ist, können Tunnel sinnvoll sein, auch wenn sie kostspielig sind. Die Niederlande machen das vor.
Zur Person
Jana Kühl (36), Professorin für Radverkehrsmanagement an der Ostfalia Hochschule in Salzgitter. Studiert hat sie Geographie. Als sie vor knapp einem Jahr ihren Posten antrat, hatte es in Deutschland noch nie eine Radprofessur gegeben. Sie besetzte die erste von sieben Stiftungsprofessuren, die das Bundesverkehrsministerium neu eingerichtet hat. Kühl selbst besitzt fünf Fahrräder, eines für jede Alltagssituation. Das Rad ist ihr Hauptverkehrsmittel für alle Strecken unter 15 Kilometern, alles andere fährt sie mit Bus und Bahn. Ein Auto hat sie nicht.
Als Frau habe ich im Tunnel Angst.
Die müssen gut beleuchtet sein. Und natürlich können sie statt in den Untergrund abzutauchen auch eine Brücke bauen, die werden als weniger beklemmend empfunden. Die Fahrradschlange in Kopenhagen, die zwei Viertel im Hafen der dänischen Hauptstadt verbindet, hat sogar einen besonderen Reiz. Es geht darum, dass man sich nicht durch Stadtverkehr quälen muss. Da gibt es aber vor allem zwei Stellschrauben: Sie gleichen die Geschwindigkeit von Auto- und Radverkehr an oder Sie verteilen den Straßenraum neu.
Radprofessorin Jana Kühl: Alles spricht für Tempo 30 in der Innenstadt
Sie wollen in Städten Tempo 30?
In den verdichteten Innenstadtgebieten macht das absolut Sinn. Es erhöht die Verkehrssicherheit für alle. Sie haben dann mehr Zeit in heiklen Situationen zu reagieren. Alles spricht für Tempo 30. Außer das allgemeine Selbstverständnis, dass Autos überall freie Fahrt haben sollen. Die Autos haben weniger Stop and Go-Phasen, der Verkehrsfluss ist besser, es staut sich seltener. Paris macht das jetzt zum Beispiel. In Deutschland ist Tempo 30 nach der Straßenverkehrsordnung aber nur an sensiblen Ort möglich, wie etwa an Krankenhäusern, Schulen oder Kitas.
Ist das Verkehrsrecht der größte Feind der Radfahrenden – die Grundkonstruktion stammt aus den 1930er Jahren, als der Mercedes, der Volkswagen, die Autos, auf die Straße sollten?
Auf jeden Fall ist es ein großes Hindernis. Es bevorzugt das Auto. Dabei sollte es eigentlich die Mobilität von allen fördern, so dass Kinder über die Straße kommen, auch jene, die vielleicht nicht mehr so gut zu Fuß sind.
Es heißt „verkehrsberuhigte Zone“, wenn Autos langsam fahren müssen, auch wenn es dann mehr Verkehr per Rad und zu Fuß gibt...
..oder nehmen Sie die Fahrradstraße, in der Fahrradfahrer nebeneinander fahren dürfen, sie haben Vorrang. Die kann nur ausgewiesen werden, wenn dort schon viele Radfahrer unterwegs sind.
Grünenpolitiker Cem Özdemir sagte mal, das sei so als könnten Sie Schienen nur dort verlegen, wo schon Züge fahren. Das ist also alles sehr kompliziert.
Wer öffentliche Mittel ausgeben will, muss den Bedarf nachweisen. Das ist schon richtig, könnte aber einfacher sein. Bei Radwegen geht es ja um das Gemeinwohlinteresse, nimmt die Bundesregierung den Klima- und den Gesundheitsschutz ernst. Darum sollte das Verkehrsrecht umgebaut werden, sodass nicht jeder einzelne Radweg begründet werden muss, es ein besseres Angebot gibt und dann mehr Leute aufs Rad umsteigen. In einem Land, in dem das Auto lange Zeit ausschließlich für Wohlstand und Freiheit stand, fällt das allerdings schwer. Da traut sich bis heute leider niemand so recht ran.
Unfallgefahren für Radfahrer und Radfahrerinnen müssen reduziert werden
Wie lässt sich vorankommen?
In den polizeilichen Pressemeldungen und Zeitungsberichten über Unfälle hört es sich oft so an, als hätten die Radfahrenden selbst schuld und sich einer Gefahr ausgesetzt. „Radfahrerin geriet unter Lkw“, „Frau ohne Helm kracht in Auto“. Dabei geht die Gefahr von den Kraftfahrzeugen aus, die in den überwiegenden Fällen auch Unfallverursacher sind. Helfen würde die Einsicht, dass Unfallgefahren für Radfahrende unbedingt reduziert werden müssen. Außerdem wäre es gut, wenn die Polizei die bestehenden Regeln kontrollieren würde. Zum Beispiel, ob der Sicherheitsabstand von mindestens 1,50 Metern beim Überholen von Radfahrenden eingehalten wird oder Radwege nicht durch parkende Autos versperrt werden.
Frau Kühl, planen Frauen anders als Männer?
Ja, das hat viel mit Sozialisation und Rollenmustern zu tun. Es besteht immer die Gefahr der Pauschalisierung. Aber Männer pendeln immer noch häufiger zum Job. Frauen übernehmen eher die Care-Arbeit, betreuen die Kinder, pflegen Angehörige neben dem Job. Sie haben andere Bewegungsmuster, legen mehr Wege und kürzere Wege zurück. Die Fachwelt ist aber männerdominiert. Das Auto spielte lange eine große Rolle, die Nahmobilität nicht.
Wie lange dauert es einen Radweg zu genehmigen, zu planen, zu bauen?
Fünf bis zehn Jahre. Viel Zeit wird mit Grundsatzdebatten vergeudet, mit der Frage, ob es überhaupt notwendig ist, an dieser oder jener Straße einen Radweg zu bauen. Das kann man sich sparen. Bauen oder sanieren wir eine Straße, bauen wir einen Radweg. Das muss der Standard sein. Alles andere überlastet die Zuständigen in den Verwaltungen, die oft ganz viel machen müssen. Da läuft der Radverkehr oft nur nebenbei. Wer vorankommen will, braucht extra Personalstellen und Experten für Radverkehr, die sich explizit dem Radverkehr widmen können.
Die müssen auch Parkmöglichkeiten für Räder schaffen.
Das ist aber vergleichsweise einfach. Schon Fahrradbügel würden helfen, um Räder sicher anschließen zu können. Die sind auch nicht teuer, kosten so um die 100 Euro. Dort, wo Räder länger stehen, etwa an Bahnhöfen, sind Fahrradparkhäuser sinnvoll, in denen Räder am besten vor Wetter und Diebstählen geschützt sind.
Holland zeigt wie es geht: Bessere Infrastruktur für den Radverkehr
Aber Geld ist immer so eine Sache. Die Niederlande geben für den Radverkehr in etwa 30 Euro pro Kopf und Jahr aus, in Deutschland sind es derzeit 11.
Das ist besser als nichts, aber man sieht in Holland auch, was möglich ist. Die Autoinfrastruktur war und ist zudem um ein Vielfaches teurer...
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...die Verlängerung der A100 in Berlin kostet 700 Millionen Euro. Da geht es um ein 3,2 Kilometer langen Abschnitt.
Das ist sehr grob überschlagen mehr als 200-mal so viel wie für einen gut ausgebauten Radschnellweg gleicher Länge gezahlt werden müsste.
Und wenn erst einmal die Radwege saniert werden, die schon da sind?
In den Niederlanden werden zum Beispiel Wurzelaufbrüche auf Radwegen regelmäßig repariert. Das ist dann nicht perfekt, aber es reduziert die Sturzgefahr. Reinigung und Winterdienst sind ebenfalls zentral. Damit wäre schon was getan. Die nächste Bundesregierung müsste aber auch für mehr Verbindlichkeit sorgen, dass sich auf der Straße wirklich etwas verändert. Es wäre ein Anfang, müssten alle Städte einen Plan vorlegen, wie sie den Radverkehr voranbringen.
Interview: Hanna Gersmann