Das gesammelte Wissen der Männer

In der Online-Enzyklopädie Wikipedia sind Frauen stark unterrepräsentiert, seit Jahren schon. Drei Autorinnen schreiben dagegen an - und machen weibliche Biografien sichtbarer.
Im vergangenen Jahr landete Frank Buchenberger im Krieg. „Edit Wars“, so nennt der langjährige Wikipedia-Autor die heftigen Streite in den Diskussionsforen der Online-Enzyklopädie über die Frage, ob ein neuer Artikel gelöscht werden soll oder nicht. Und ziemlich viele Menschen wollten, dass Frank Buchenbergers jüngster Artikel gelöscht wird. Es ging darin um Tonny Nowshin, Aktivistin für Klimagerechtigkeit und Degrowth, Wirtschaftswissenschaftlerin, aufgewachsen in Bangladesch. Kurz zuvor hatte sie der deutschen Klimabewegung in einem Artikel ein Rassismusproblem vorgeworfen.
Buchenberger gibt zu, dass der Artikel damals „dünn“ war, er hatte ihn angesichts der Aktualität schnell geschrieben und wollte ihn nochmal überarbeiten. Doch was ihn schockierte, war nicht der Löschantrag an sich. Es war die Sprache, die ihm in der Diskussion entgegenschlug und die so gar nicht nach der neutralen Haltung klang, die sich die Wikipedia-Community auf die Fahnen schreibt. „Sowohl die ‚Aktivistin‘ als auch der Artikel fallen eigentlich schon unter Realsatire“, schrieb einer. „,Klimagerechtigkeits- und Degrowth-Aktivistin‘, wenn ich sowas schon lese“, ätzte ein anderer. Teile der Debatte sind bis heute nachzulesen, andere haben die Administratoren und Administratorinnen inzwischen gelöscht. Jene Teile, in denen die Aktivistin laut Buchenberger von einem User als „Girlie“ bezeichnet worden sei, ihr Engagement als „Herumgehüpfe und Geschrei“. Und wo Sätze wie diese fielen: „Mädel, werd mal erwachsen“ und „in zwei Jahren bekommst du vielleicht mal ein Foto“.
Gerade bei Löschdiskussionen in der Wikipedia zeigen manche Autoren ihren Sexismus
Es scheint als habe der Pöbler Frank Buchenberger, der einen nicht geschlechtsspezifischen Usernamen nutzt, für Tonny Nowshin gehalten – oder zumindest für eine junge Frau. Dass die Diskussionen in der Wikipedia gerne einmal rauer ablaufen, kannte er schon. Doch eine solch herablassende, beleidigende Attitüde war ihm neu. Frank Buchenberger, IT-Berater aus dem hessischen Hanau, hatte am eigenen Leib das Sexismus-Problem der Wikipedia-Community erlebt. Eine herbe Enttäuschung für ihn, der sich selbst als „großen Fan“ des Wiki-Prinzips bezeichnet.
Bis heute gilt die Wikipedia vielen als strahlendes Beispiel einer globalen Gemeinschaft von Neugierigen, die die Wissensproduktion revolutionieren – basisdemokratisch, dezentral, transparent. Allein im deutschsprachigen Raum stecken rund 20 000 Freiwillige Zeit und Herzblut in die Arbeit an der digitalen Enzyklopädie, die inzwischen auch als Quelle deutlich ernster genommen wird.
Interne Umfragen legen nah: In der Wikipedia schreiben zu etwa 90 Prozent Männer
Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Denn die Wikipedia mag technisch allen offenstehen. Tatsächlich aber ist es eine ziemlich homogene Gruppe, die faktisch über die Inhalte entscheidet. Umfragen unter Autorinnen und Autoren legen nahe, dass die Community zu mehr als 90 Prozent aus Männern besteht, meist sind sie aus Europa oder den USA und hochqualifiziert.
Und auch inhaltlich klafft eine Lücke: Nur gut 16 Prozent der mehr als 800 000 Biografien in der deutschsprachigen Wikipedia beschäftigen sich mit Frauen. Dass das mit der jahrhundertelangen Beschränkung auf Heim und Herd zu tun hat, liegt auf der Hand. Doch vieles spricht dafür, dass auch die spezifischen Interessen der Autoren eine Rolle spielen. So umfasst etwa die „Liste von Pornodarstellerinnen“ hunderte gut informierter, gepflegter Einträge, während die „Liste deutschsprachiger Lyrikerinnen“ nur eine Weiterleitung auf die „Liste deutschsprachiger Lyriker“ ist, auf der Frauen mitgemeint und spärlich vertreten sind. Frank Buchenberger moniert, jeder drittklassige Rennfahrer aus den 50er Jahren habe eine eigene Wikipedia-Seite, manche wichtige Aktivistin oder Wissenschaftlerin der Gegenwart dagegen nicht.
Eine fehlende Frau machte Hannah Schmedes auf den Wiki-Gap aufmerksam
Es war auch eine fehlende Frau, die Hannah Schmedes auf das Problem aufmerksam machte, das manche den „Wiki-Gap“ nennen. In ihrem Studium der Kulturwissenschaften hatte sie sich mit feministischer Theorie beschäftigt und eine Hausarbeit über die US-amerikanische Wissenschaftssoziologin Myra Hird geschrieben. „Und wie das so ist, man fängt an zu recherchieren, gibt das Thema erstmal bei Google ein – aber einen Wikipedia-Eintrag zu ihr habe ich nicht gefunden.“ Zusammen mit ihren Mitstreiterinnen Eva Königshofen und Lena Wassermeier fing sie an, weiterzusuchen und stellte fest, dass zu vielen Personen und Themen, die sie interessierten, keine Artikel existierten. „Wir haben uns gefragt: Warum nehmen wir nicht unsere aufwendigen Recherchen für die Uni und zweitverwerten sie.“
Aktiv werden
Warum nicht mal selber Wikipedia füttern? Eine Einführung ins Verfassen von Wikipedia-Artikeln findet sich hier. Gut erklärt wird der Start auch hier. Wer aktiv die Sichtbarkeit von Frauen verbessern will, kann sich auf der Wikipedia-internen Seite „Frauen in Rot“ umschauen. Dort werden nicht nur die nächsten Schreibwerkstätten angekündigt, sondern auch diverse Listen mit potenziell relevanten Frauen gepflegt, die noch keinen deutschsprachigen Eintrag haben.
So wurde 2019 die Feministische Schreibwerkstatt geboren, eine Mischung aus Textschmiede und Workshop. Spezialisiert hat sie sich auf die Biografien von Frauen und queeren Personen aus Wissenschaft und Kunst, mitmachen können alle, die Lust haben.
Es gibt inzwischen einige solcher Projekte. Von dem Schweizer Netzwerk „Who writes his_tory?“ über den jährlich am Internationalen Frauentag stattfindenden Edit-a-thon „Art+History“ bis hin zu diversen „Women Edits“ der Wikimedia-Stiftung selbst, bei denen erfahrene Wikipedianerinnen den Neuen unter die Arme greifen.
Dabei geht es nicht nur um praktische Fragen, sondern darum, sich gegenseitig den Rücken zu stärken. Viele Autorinnen berichten, dass sie sich lange nicht getraut hätten, selbst neue Artikel anzulegen oder größere Änderungen vorzunehmen. Eva Königshofen formuliert es so: „Wer fühlt sich überhaupt dazu berufen, das eigene Wissen mit der Welt zu teilen? Wer spürt diesen Drang?“ Und, so ließe sich anfügen, wer ist bereit, das eigene Geschriebene gegen zum Teil beleidigende Kritik zu verteidigen?
Die Relevanzkriterien: Das Herzstück des Wikipedia-Systems
Auch ihre ersten Erfahrungen seien demotivierend gewesen, erzählt Hannah Schmedes, die inzwischen mehrfach „elend schlimme Diskussionen“ erlebt hat. „Viele unserer Artikel sind sofort in die Qualitätssicherung oder gleich in die Löschdiskussion gerutscht.“ Das Argument sei immer das gleiche gewesen: „Nicht relevant“. „Das haben wir sofort als Affront gegen uns und unsere Themen aufgefasst. Was Relevanzkriterien waren, wussten wir damals noch gar nicht.“
Die Relevanzkriterien: ein Herzstück des Wikipedia-Systems. Sie sollen sicherstellen, dass in der Wikipedia zwar alle schreiben können, aber nicht alle alles. Werbung, Scherztexte oder Artikel über die eigene Person gelangen im besten Fall nicht durch die kollektive Prüfung. Wer einen neuen Artikel anlegt, muss belegen, warum dieser relevant ist und zum enzyklopädischen Wissen zählen sollte. Bei Biografien gehören zu diesen Kriterien je nach Themenbereich etwa Preise und Auszeichnungen, wichtige Ämter oder eigene Veröffentlichungen. Festgelegt werden die Relevanzkriterien innerhalb der Community.
Die Kritik: Die Wikipedia-Relevanzkriterien klammern viele marginalisierte Gruppen aus
Auch die drei Gründerinnen der Schreibwerkstatt glauben, dass Regeln und Relevanzkriterien wichtig sind. Aber viele davon müssten aus ihrer Sicht geändert werden, damit sie nicht all jene ausklammern, deren Bedeutung sich weniger einfach an starren Kriterien festmachen ließe. Das sei oft bei Frauen der Fall, aber auch bei „sogenannten marginalisierten Gruppen“, die weniger Zugang zu jenen Zirkeln hätten, in denen Preise vergeben, Buchverträge abgeschlossen oder Posten vergeben werden.
Weil sie nicht nur kritisieren, sondern auch etwas verändern wollen, ist Lena Wassermeier inzwischen Teil einer Arbeitsgruppe, die sich mit genau diesen komplexen Fragen beschäftigt. Und alle drei sagen, sie hätten an sich selbst eine Veränderung festgestellt, eine Art Wikipedia-Blick auf die Welt. „Ich schaue jetzt immer sofort, ob Personen, über die ich etwas erfahre, schon einen Artikel haben“, sagt Eva Königshofen. Wenn sie einen existierenden Artikel lese, ändere sie oft kleinere Sachen. „Die Plattform ist nahbarer geworden.“
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Auf genau solche Veränderungen hofft Frank Buchenberger. Die Wikipedia brauche junge Menschen, ihr demokratisches Engagement, ihre Themen und ihren Blick auf die Welt „ganz dringend“. Die Impulse dafür müssten von außen kommen, glaubt er. Die Wikimedia-Stiftung verschleppe notwendige Veränderungen aus Furcht, die bestehende Autorenschaft zu verprellen.
Die bisherigen Erfahrungen haben auch die drei Autorinnen der feministischen Schreibwerkstatt skeptisch gemacht, ob die Utopie von der Schwarmintelligenz dem Realitätscheck standhält. Klar ist für sie aber auch, dass sie eine Verantwortung haben weiterzumachen. „Egal wie wir persönlich zur Wikipedia stehen, sie ist eine der größten Websites der Welt und eine extrem wichtige Quelle.“