Wer repräsentiert Deutschland?

„Da kommt man nur rein, wenn man einen Adelstitel hat.“ Menschen mit Migrationshintergrund erhalten nur schwer eine der begehrten Stellen im Auswärtigen Amt. Die afrodeutsche Diplomatin Tiaji Sio von den „Diplomats of Color“ will Deutschland ein moderneres Erscheinungsbild verpassen.
Johannes Davi will irgendwann vom Follower zum Mitarbeiter werden. Ende Mai sah der 25-jährige Jurastudent auf dem Instagram-Kanal des Auswärtigen Amts ein Video, das ihn in seinem Karriereziel bestätigte: Diplomat. Das Video habe zwar ernüchternd begonnen, ihm aber gezeigt, erzählt Davi am Telefon, „dass das Auswärtige Amt sich im Wandel befindet“.
Hoffnung macht ihm die 24-jährige afrodeutsche Diplomatin Tiaji Sio, die in dem Video einen Mangel an Diversität in der eigenen Behörde zum Thema macht: „Anders als im französischen oder britischen Außenministerium ist es bei uns noch keine Selbstverständlichkeit, dass People of Color deutsche Interessen im Ausland vertreten“, stellt sie fest und ergänzt: „Auch Führungspersonen mit sichtbarem Migrationshintergrund gibt es noch keine.“
Der Begriff People of Color (PoC) kommt aus den USA. Mittlerweile wählen ihn auch in Deutschland viele Menschen als Eigenbezeichnung, die sich als nichtweiß definieren – und gemeinsame Rassismuserfahrungen teilen. So auch Johannes Davi. Wenn er in seinem Umfeld von den Karriereplänen in der Diplomatie erzähle, sei ihm auch mal Skepsis entgegengeschlagen. Einmal habe er zu hören bekommen: „Da kommt man nur rein, wenn man einen Adelstitel hat.“
Die Vielfalt der deutschen Gesellschaft spiegele sich in der Verwaltung nicht wider, sagt Sio
Tiaji Sio hat keinen Adelstitel. Trotzdem ist sie Beamtin im gehobenen Dienst im Auswärtigen Amt und vertritt das Netzwerk „Diplomats of Color“. Mit Gleichgesinnten hat sie die Initiative als interne Interessenvertretung Mitte 2019 gegründet. Sie habe einen offenen Diskurs über Rassismus im Bundesministerium schaffen, erzählt sie im Gespräch mit der FR, und zugleich einem Widerspruch entgegenwirken wollen: „Die deutsche Gesellschaft ist vielfältig und divers, aber genau diese Vielfalt spiegelt sich in der Verwaltung nicht wider.“ Damit, ist sie überzeugt, werde die Bundesverwaltung dem demokratischen Anspruch nicht gerecht, die gesamte Gesellschaft zu vertreten.
Die Regierung ist sich des Problems bewusst. „Das kann und darf uns nicht zufriedenstellen“, sagte Anfang Dezember die Integrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz (CDU) bei der Vorstellung der Ergebnisse einer erstmaligen Angestelltenbefragung zur kulturellen Vielfalt in 55 Bundesbehörden. Rund 47 000 Interviews hatte das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung seit 2019 für die repräsentative Umfrage „Diversität und Chancengleichheit“ ausgewertet. Demnach sind Menschen mit „Migrationshintergrund“ in der Bundesverwaltung, auf die Gesamtbevölkerung gerechnet, unterrepräsentiert, sie haben häufiger als Angestellte ohne „Migrationshintergrund“ unsichere Anstellungsverhältnisse und geringere Chancen aufzusteigen.
Sio steht am Anfang ihrer Laufbahn. 2015 schaffte sie nach dem Abitur die Aufnahme in den Vorbereitungsdienst, ein dreijähriges duales Studium an der Hochschule des Bundes. Seit diesem Sommer arbeitet sie in der deutschen Botschaft in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi. Freitagsabends plant sie mit ihren Mitstreiter:innen Aktionen. Rund 150 Angestellte haben sich den „Diplomats of Color“ bereits angeschlossen.
Im Auswärtigen Amt wurde auch mit Skepsis auf die „Diplomats of Color“ reagiert
Vor Sios Wechsel von Berlin nach Hanoi organisierten sie im Auswärtigen Amt eine Lesung der Schriftstellerin und Antirassismustrainerin Tupoka Ogette. Sie dringen darauf, dass Behörden klar regeln, wer für die Themen Vielfalt und Inklusion verantwortlich ist, beispielsweise Diversitätsbeauftragte. Das Auswärtige Amt soll dabei mit gutem Beispiel vorangehen. 2021 möchte die Initiative die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Außenministeriums in der Kolonialzeit in den Fokus rücken. Hier, sagt Sio, „sehen wir viel Nachholbedarf“.
Seit Mai, als das Video erschienen ist, erhalten die Initiative und ihre Anliegen einen Schub – teils auch unfreiwillig. Zum einen verbreiteten sich fast gleichzeitig die Bilder vom Mord am Afroamerikaner George Floyd in den USA. Sie lösten auch in Deutschland Proteste und eine neuerliche Debatte über strukturellen Rassismus aus. Zum anderen traf Tiaji Sios Aufruf nicht nur auf Begeisterung. Ihr Netzwerk habe vor dem Video auch innerhalb des Auswärtigen Amts Skepsis hervorgerufen. Und dann zog in den sozialen Medien ein Shitstorm vom rechten Rand gegen sie und ihre Initiative auf.
Sio und ihre Mitstreiter:innen ließen sich davon nicht beirren. Ganz im Gegenteil: „Dieser Mix hat dazu geführt, dass unser Netzwerk an Fahrt aufgenommen hat“, konstatiert sie ein halbes Jahr später. Im November setzte der deutsche Ableger des US-Wirtschaftsmagazins „Forbes“ Sio auf die Jahresliste der 30 wichtigsten Persönlichkeiten unter 30 Jahren. Sio sieht darin „ein Zeichen für den gesellschaftlichen Diskurs über Rassismus“ und ist überzeugt: „Gerade seit 2020 gibt es ein geschärftes Bewusstsein.“
Vom Unterschied zwischen sichtbaren und nicht-sichtbaren Migrantinnen und Migranten
Damit sich jedoch nachhaltig etwas ändert, müssten auf Worte Taten folgen. „Zurzeit ist es nur eine gefühlte Wahrnehmung“, sagt sie über die fehlende Repräsentanz von Minderheiten, „strukturell etwas verändern kann man aber nur, wenn man eine statistische Grundlage hat.“
Den seit 2005 erfassten „Migrationshintergrund“ kritisiert sie als zu ungenau. Einerseits schließe er Menschen mit Migrationsgeschichte aus, deren Familien schon seit vielen Generationen in Deutschland lebten und die dennoch Diskriminierung erführen. Andererseits beziehe der Begriff Einwandernde ein, unabhängig davon, ob sie einer sichtbaren Minderheit angehörten, die öfter schlechtere Teilhabechancen hätten.
Ähnliche Kritik formuliert auch das Projekt „Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership“, das Aktivist:innen um den Politikwissenschaftler Daniel Gyamerah betreiben. Ausgehend von Berlin fordern sie die Erhebung von Gleichstellungsdaten, um zu ermitteln, wie viele PoC in Führungspositionen sind. Gyamerah verantwortet auch die Onlinebefragung „Afrozensus“, die seit Juli 2020 in Deutschland die Lebensrealitäten Schwarzer und afrikanischstämmiger Menschen erfasst.
Sio will mit den „Diplomats of Color“ den Wandel von Innen heraus anstoßen
Tiaji Sio schlägt vor, für Volkszählungen eine Frage nach der ethnischen Herkunft in Form einer Selbstidentifikation einzuführen, wie es sie etwa in Kanada mit der Kategorie „visible minority“, also sichtbare Minderheit, gibt. Kanadische Bürger:innen können beim Zensus angeben, ob, und wenn ja, welcher sichtbaren Minderheit sie angehören. Mit den Daten werden Studien angefertigt und für die Politik entsteht Handlungsdruck: Wie ist das durchschnittliche Einkommen, auch im Vergleich mit der Mehrheitsgesellschaft?
Nachgefragt bei Oliver Schmidtke in Kanada: Der deutsche Politikwissenschaftler lehrt seit vielen Jahren an der University of Victoria auf Vancouver Island und forscht zum kanadischen Multikulturalismus. „In Kanada gibt es einen ganz breiten politischen Konsens, dass Diversität etwas Gutes ist, das Kanada hilft, gesellschaftlich gewollt ist und mit zur Identität des Landes gehört.“ In europäischen Gesellschaften sei dies dagegen noch hart umkämpft.
Für die Erfassung der sichtbaren Minderheiten habe „Kanada sich sehr bewusst entschieden“. Mit den Daten werden Studien angefertigt und für die Politik entstehe Handlungsdruck: Wie ist das durchschnittliche Einkommen? Wie ist es im Vergleich mit der Mehrheitsgesellschaft? „Wenn man die Daten nicht hat, kann man das nicht erfassen, sondern nur anekdotisch beschreiben.“ Auch wenn jemand eingestellt wird, können die Daten eine Rolle spielen. Stellen werden dann mit einer Präferenz für Minoritäten ausgeschrieben, um eine ausgeglichene Teilhabe sicherzustellen.
Solange es etwas Vergleichbares in Deutschland nicht gibt, will Tiaji Sio mit den „Diplomats of Color“ von innen heraus am Wandel arbeiten und Bewusstsein für benachteiligende Strukturen schaffen. Junge Menschen wie Johannes Davi fordert sie auf sich zu bewerben. Man könne sich schließlich nicht darauf verlassen, dass die Zeit allein den Wandel herbeiführe: „Von alleine passiert das nicht.“