Videokonferenzen, 3D-Brillen und Co.: Wie wir in virtuellen Welten leben

Im virtuellen Raum entstehen täglich neue Welten, wir kaufen und spielen, hassen und lieben via Internet. Spaltet das die Gesellschaft? Oder bereichert es das Leben der Menschen in nie gekannter Weise?
Diese Fünf haben es geschafft: Videos von Computerspielen sind ihr Hauptberuf, von dem sie bestens leben können. Die Mitglieder von „Pietsmiet“ sind in ihrer Szene seit Jahren berühmt: Auf Youtube folgen ihnen zweieinhalb Millionen Abonnenten, dazu kommt noch einmal eine halbe Million auf der Computerspiele-Plattform Twitch.tv.
Professionelle Computerspieler: Livestreams als Beruf
Fast jeden Tag ist mindestens einer der fünf professionellen Spieler von Pietsmiet live online. „Dabei kommt es überhaupt nicht darauf an, dass wir viel besser spielen als andere“, sagt Sebastian Lenßen, 31, der unter dem Spitznamen „Sep“ Teil der Gruppe ist. Das Spiel sei nur ein Anlass, im virtuellen Raum zusammenzukommen. „Es bildet sich beim Live-Streaming eine echte Gemeinschaft.“ Er spielt, Tausende schauen zu, und alle chatten über Gott und die Welt.
Lenßens Fans nehmen zum Beispiel Anteil daran, dass er bald Vater wird. Neulich kamen daher auch so altertümliche Themen wie Hausbau und Bausparen in einem seiner Livestreams zur Sprache. Lenßen ist dabei in einem kleinen Seitenfenster von vorne im Sessel zu sehen, auf dem Hauptbildschirm läuft das Spiel und seitlich rasseln die Kommentare durch das Chat-Fenster. Hier auf Twitch.tv ist damit die Phantasiewelt des Spiels noch einmal um die Dimensionen des Live-Spielers und der Gemeinschaft im Chatraum erweitert.
Computerspiele: Livestreams sind typisch für die digitale Ära
Lenßen und seine Follower sind typisch für die längst angebrochene Ära einer global vernetzten, allgegenwärtigen Gleichzeitigkeit. Das Ausmaß des Informationsflusses ist so groß, dass es nicht nur eine Steigerung des Bekannten bringt, sondern dem menschlichen Miteinander eine weitere Ebene hinzugefügt hat. „Das Netz“ ist längst kein abgetrenntes Phänomen mehr, sondern eine direkte Erweiterung des physischen Raums. Wer sucht, findet dort seine ganz spezielle Heimat. Es ist nicht mehr nur ein Ort für Diskussionen und den Austausch von Dateien. Stattdessen sind dort synthetische Welten entstanden, in denen wir zunehmend zuhause sind.
Selbst gute Teile der mittleren und älteren Generation finden hier ihre Orte und Nischen. Auf Facebook liefern sie sich politische Diskussionen, auf Nebenan.de organisieren sie Kinderbetreuung, auf Youtube schauen sie Heimwerkervideos. Für die Jüngeren in den Dreißigern dreht sich alles um ihre Likes auf Instagram. Die ganz Jungen empfinden in Online-Spielen wie „Fortnite“ echte Verbundenheit mit den anderen Teammitgliedern. Kleinere Kids stecken enorme Kreativität in ihre Mini-Videos auf der App Tiktok.
Apps und Computerspiele: „Das sind keine Parallelwelten“
Wer sich auf solchen Plattformen engagiert ist, wer soziale Apps benutzt und gemeinsam Spiele spielt, empfindet sie zunehmend als Erweiterung der herkömmlichen Realität. „Das sind keine Parallelwelten“, sagt Markus Beckedahl, Gründer des Portals Netzpolitik.org und einer der Vordenker der Digitalkultur in Deutschland. „Es ist ein zunehmend wichtiger Teil unserer Wirklichkeit.“ Realität entsteht im Kopf, und dort ist es gleichgültig, ob der Daten-Input direkt von unseren Sinnen kommt oder etwas indirekter aus den Tiefen eines Netzwerks überspielt wurde.
Was an der Netzkultur jedoch definitiv neu ist und auffällt, ist die immer größere Spezialisierung der Untergruppen. Das Publikum ist global. Egal, wie speziell ein Thema ist, es finden sich erstaunliche Zahlen von Interessenten.
Ein Video über die Haltung von Ameisenkolonien kann 1,5 Millionen Abrufe erreichen. Selbst für die Chemie des übelriechenden Wehrsekrets des Stinktiers interessieren sich mehrere Hunderttausend Zuschauer. Tipps zum Ausschalten schwerer Gegner in beliebten Spielen erreichen leicht mehrere Millionen Aufrufe. Teenager, die Musik spielen, kommen auf zweistellige Millionenzahlen pro Video. Von solchen Follower-Werten, sprich: Einschaltquoten, können die deutschen Hauptsender nur noch träumen. Im TV misst sich die Zahl der Zuschauer zwischen 14 und 49 Jahren meist in den Tausendern, allenfalls Top-Shows erreichen dort noch Hunderttausende – und auch hier zeigen Untersuchungen, das diese Zielgruppe meist gleichzeitig aufs Handy schaut und dort Soziale Medien nutzt. Diese Zielgruppe beschäftigt sich lieber im Netz mit dem, was sie wirklich interessiert und diskutieren es in ihrer Community.
Megatrend: Synthetische Realitäten
These 1 : Synthetische Welten im Internet werden für immer mehr Menschen zur Realität.
These 2: Stärker als je zuvor treibt das Internet gesellschaftliche Trends und auch politisch Entscheidungen an.
These 3: Der Fortschritt muss Regeln folgen und kontrollierbar sein, vor allem aber müssen die Menschen mit der Technik umgehen lernen.
Markus Beckedahl sieht das als positiven Trend: „Ich würde nicht zurückwollen in eine Medienwelt mit nur wenigen Kanälen, in der ich mich nirgendwo zugehörig fühle.“ Beckedahl selbst interessiert sich nicht für Fußball – und hat sich immer über die Dominanz dieses Sports in der Berichterstattung gewundert. Klar interessiert sich etwas mehr als die Hälfte der Deutschen für Fußball. Aber was ist mit der anderen Hälfte? „Die Leute wollen sich ihren Medienkonsum selbst zusammenstellen“, folgert Beckedahl.
Digitale Gruppen: politisch unkontrollierbar?
Doch der Trend zur immer kleinteiligeren Gruppenbildung scheint zumindest für die Politik unkontrollierbare Auswirkungen zu haben. Verdankt Donald Trump seine Wahl nicht der Indoktrinierung großen Gruppen von US-Amerikanern im Netz? Kommuniziert er nicht auf Twitter, einem Sozialnetz, mit ihnen? Selbst jetzt noch sieht es so aus, als wollten ihn viele seiner Anhänger wiederwählen – ungeachtet all dessen, was geschehen ist. Auch Brexit-Befürworter, Pegida, die AfD oder Corona-Leugner haben ihre Basis im Netz.
Für die Medien alter Schule war daher klar, wer an den unbehaglichen Verschiebungen der jüngsten Zeit schuld ist: Die neue Technik. „Wie Populisten durch Facebook groß werden“, wollte die FAZ nach der Wahl Trumps beschreiben. Und konstatierte: „Das Netzwerk ist ein Rückzugsraum für Radikalisierung.“
Kolumnisten der klassischen Medien, aber auch Psychologen und Technikexperten waren schnell überzeugt, dass im Netz „Echokammern“ oder „Filterblasen“ entstanden waren, in denen die Leute – abgeschottet von der Realität – die abstrusesten Vorstellungen pflegen. Aus Sicht der Intellektuellen sind es natürlich immer die anderen, die Ungebildeten, die sich dort „verführen“ oder „fehlleiten“ lassen und dann logischerweise eine falsche politische Wahl treffen.
Neal Stephenson beschreibt den Zerfall der USA im Roman
Der Science-Fiction-Autor Neal Stephenson hat diese Annahmen eindrucksvoll in die Zukunft fortgeschrieben. In der Welt seines Buches „Fall; or, Dodge in Hell“ teilen sich die USA in den kommenden Jahrzehnten faktisch in zwei Länder, die durch eine regelrechte Grenze voneinander getrennt sind. Die ultrareligiösen Innengebiete glauben an das, was ihnen entfesselte Sozialmedien einflüstern: „Ameristan“ ist komplett „gefacebooked“. Die Inhalte der Sozialmedien laufen über „AR-Brillen“, die eine alternative Realität vorgaukeln. Algorithmen zeigen jedem Bürger nur, was er ohnehin schon glaubt.
Zum Teil hängen die Bewohner von Ameristan noch nachvollziehbaren Verschwörungetheorien an – etwa, dass Jesus nie gekreuzigt wurde, weil ein so mächtiger Gott das nie mit sich machen lassen würde. Seine Demut und Friedfertigkeit sei eine Erfindung der Linken, Jesus sei in Wirklichkeit eine waffenstarrende Gottheit der Stärke. Die noch weiter abgedrifteten Stämme Ameristans werden von den Programmen hinter dem Informationsstrom nur noch mit „einem Mischmasch aus Bildern, Tönen“ und Satzfetzen bombardiert. Die Botschaften haben keinen Sinn mehr, außer möglichst lange die Aufmerksamkeit der Empfänger zu binden.
Donald Trump liefert Inspiration für düstere Zukunftsaussichten
Diese düstere Vision Stephensons ist unter dem Schock der erratischen Trump-Regierung und ihrer vorgeblich faktenresistenten Anhänger entstanden. Doch wie realistisch ist sie? Werden durch das Internet jetzt alle wahnsinnig? Es mag derzeit fast so scheinen, doch an der Schwelle zum zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts differenziert sich zugleich das Bild der Sozialmedien – und wirkt bei näherer Betrachtung nicht mehr gar so bedrohlich.
Die Wissenschaft gibt jedenfalls vorerst Entwarnung. „Die Angst, dass neue Technologien die Gesellschaft auseinanderreißen, ist übertrieben“, glaubt der US-amerikanische Medienpsychologe Rob Brotherton. In seinem Buch „Bad News – Why we fall for Fake News“ widmet er ein ganzes Kapitel der gängigen Vorstellung von Echokammern und Filterblasen – und widerlegt sie weitgehend. Natürlich bilden sich im Netz Gruppen für alle Spezialinteressen – auch politisch. Und ja, Verschwörungstheorien gedeihen hier prächtig. Es handele sich hier jedoch eher um die digitale Ausprägung einer zutiefst menschlichen Eigenschaft: Im Geiste „ähnliche Menschen rücken zusammen und halten sich von Leuten fern, von denen sie sich stark unterscheiden“.
Internet: Zielgerichtete Werbung und zielgerichtete Forschung
Die gigantischen Datenschätze der Internetfirmen erlauben nicht nur besonders zielgerichtete Werbung, sondern auch besonders zielgerichtete Forschung. Da sich nachvollziehen lässt, wer mit wem verbunden ist und wer was liest, lässt sich auch die These von den Filterblasen überprüfen. Das Ergebnis: Auch Menschen mit sehr klaren Überzeugungen informieren sich heute aus höchst unterschiedlichen Quellen – darunter auch viele, die nicht aus ihrer angestammten Ecke kommen. „Wenn überhaupt, dann ist ihre Online-Vernetzung viel diverser als ihre Offline-Vernetzung“, schreibt Brotherton.

Auf Deutschland bezogen hieße das: Ein strenger Katholik aus einem bayerischen CSU-Dorf hatte auch früher allenfalls minimale Berührungspunkte mit Berliner LGBTQ-Aktivisten. Und Pegida-Anhänger aus Dresden hätten auch ohne das Internet keinen Dialog mit Multi-Kulti-Klubs gesucht. Es ist also gar nicht das Netz, das die unterschiedlichen Haltungen voneinander trennt. Im Gegenteil, sagt Brotherton: Soziale Medien machen es wahrscheinlicher, dass ein Großstadt-Grüner eben doch einmal mit Anwohnerklagen über die lauten Windräder konfrontiert wird – oder dass der CSU-Katholik Argumente dafür sieht, dass Homosexualität eben doch keine Krankheit ist. Der zum Teil verbissene, unversöhnliche und aggressive Ton in Chatforen kommt nach dieser Lesart eben daher, dass sich hier Gruppen aneinander reiben, die früher gar nicht in Kontakt geraten wären.
Es war Rob Brotherton zufolge auch noch nie so, dass die Leute sich von ihren Überzeugungen abbringen lassen, indem sie geduldig den Argumenten der Gegenseite zuhören und sie übernehmen. Öko-Aktivisten sind in Vor-Internetzeiten auch eher selten auf Info-Veranstaltungen der Atom- oder Kohleindustrie gegangen, um aufmerksam zuzuhören und sich gegebenenfalls von deren Sichtweise überzeugen zu lassen. Die Wähler rechter Parteien hatten umgekehrt auch damals nicht das Amnesty-Magazin abonniert. Damals wie heute überwiegt bei beiden Seiten Unverständnis, warum die jeweils andere denn die Wahrheit nicht endlich erkennt.
Beckedahl sieht die Quelle gesellschaftlicher Problem daher nicht grundsätzlich in der Natur des Netzes, sondern in mangelnder digitaler Bildung. Das Defizit sei riesig: Keine Institution informiere breite Kreise der Bevölkerung systematisch über den Umgang mit Quellen. Die Bewertung von Informationen, die heute in unbegrenzter Widersprüchlichkeit vorhandenen sind, müsse jedoch erlernt werden.
Digitales Lernen: Schulen schaffen es nur ansatzweise
Doch gerade die Schulen schaffen es derzeit nur ansatzweise, diese Kompetenz zu vermitteln. Klar gibt es viele engagierte und kompetente Lehrerinnen und Lehrer, die hier ihr Bestes geben. Aber in vielen Fällen hapert es einfach an IT-Kompetenz, so dass die Lehrkräfte an den digitalen Eingeborenen vor sich in der Klasse vorbeireden. Die Informatiklehrer wiederum haben zwar Ahnung von Rechnern, doch sie unterrichten selten die Medienkompetenz.
Markus Beckedahl vergleicht die Medienerziehung mit der Verkehrserziehung, die seit Jahrzehnten Teil des Unterrichts ist. Die Kids werden auf das Internet, das bei ihnen eine so riesige Rolle spielt, viel schlechter vorbereitet als auf den Straßenverkehr. Im Ergebnis haben viele Achtzehnjährige gar nicht so viel Ahnung vom Umgang mit digitalen Medien, wie ihnen die Älteren zutrauen. Beckedahl hält die Zuschauer von Pietsmiet auf Twitch bereits für eine privilegierte Elite – schließlich brauche es einen starken PC oder eine Konsole, um überhaupt an der Welt der komplexeren Spiele teilnehmen zu können.
Eine Begleiterscheinung, die den künstlichen Welten weiter anhaften wird, sind Entgrenzung und Mobbing. Es sind nicht nur rassistische und anderweitig ausgrenzende Sätze sagbar geworden, die in Deutschland früher nirgendwo zu hören gewesen wären. Auch die Anfeindungen wurden heftiger, weil die Leute im Schutze der Anonymität eher einen scharfen Ton wählen. Gerade die Jüngsten haben Schwierigkeiten, das einzuordnen.
Berufsziel „Youtuber“
Live-Spieler Sebastian Lenßen berichtet von einer Mutter, die sich hilfesuchend an ihn gewandt hat: Ihr Sohn hatte als junger Teenager einen eigenen Youtube-Kanal gestartet. Er hatte wie gewünscht eine Reihe von Abonnenten für sich gewonnen, doch zuletzt war der Kanal von übelmeinenden Personen überschwemmt, von sogenannten Trollen. Diese machten sich über den Jungen lustig. Das stürzte ihn in eine Lebenskrise, zumal sein Berufsziel „Youtuber“ lautet.
Lenßens Rat sei ganz „old school“ gewesen, sagt er. Bis zu einem Alter, in dem sich auch negative Reaktionen aus dem Netz einordnen lassen, sollten die Eltern die Aktivitäten überwachen und begleiten. „Die Kinder sollten sich vor allem weiter in erster Linie auf die Schule konzentrieren“, sagt der Internetvideo-Profi. Dieser Rat kommt von jemandem, der erst sein Maschinenbau-Studium abgeschlossen hat, bevor er Livestreamer geworden ist. Mit dem Traumjob „Youtuber“ sei es schließlich wie mit Fußballern und Pop-Stars: Viele wollen es werden, nur wenige schaffen es.
„Influencerin“ oder „Fortnite-Profi“ - Profi-Spieler starten als Hobby-Filmer
Doch ganz so absurd, wie die Elterngeneration glauben mag, sind Berufswünsche wie „Influencerin“ oder „Fortnite-Profi“ heute gar nicht mehr. Auch für Lenßen und seine Kollegen ist Pietsmiet schon seit Jahren der Hauptberuf. Die Profi-Spieler haben die Videos erst als Hobby aufgenommen, sind heute aber als Unternehmen organisiert. Lenßen und seine Kollegen verfügen aber auch ganz ausgeprägt über das Talent, das Interesse ihrer Zuschauer durch entspannte Plaudereien wachzuhalten.
In China wiederum verdienen normale junge Leute bereits ordentliche Summen, indem sie ihr Alltagsleben im Netz streamen und dabei über das plaudern, was ihnen durch den Kopf geht. Die Zuschauer können kleine Geschenke wie virtuelle „Bohnen“ oder „Lollis“ schicken, die echtes Geld wert sind.
Es sind jedoch die Extreme, von denen magische Anziehungskraft ausgeht. Die deutschen Tiktok-Superstars Lisa und Lena haben mit ihren Videos angeblich ein Vermögen von zwei Millionen Euro aufgebaut. Die kanadische E-Sportlerin Sasha Hostyn, 27, die auf das Strategiespiel Starcraft II spezialisiert ist, soll bereits rund 300 000 Euro an Preisgeldern gewonnen haben. Die virtuellen Welten werden also immer mehr zu realen Einnahmequellen.
Wertpapierhäuser bieten Aktien mit Bezug zu Computerspielen
Für Anleger bieten die Wertpapierhäuser längst Fonds an, die sich auf Aktien mit Bezug zu Computerspielen spezialisiert haben. Die Aktien sind deshalb so gefragt, weil sich gerade eine große Bandbreite anderer Anwendungen für Technik auftut, die ursprünglich für Spiele entwickelt wurde. Leistungsfähige Grafikchips eigenen sich auch für Künstliche Intelligenz. Und Programmcodes, die Computergegnern ein realistisches Verhalten einhauchen, sind auch beim Militär gefragt, wo derzeit Kampfroboter in Entwicklung sind. Der nächste Krieg unter Techniknationen wird voraussichtlich viele Elemente von Videospielen haben.
Die 3D-Bildgebung und exakte Fernsteuerung spielen wiederum für die Telemedizin eine Rolle, über die derzeit infolge der Pandemie viel gesprochen wird. Ein Chirurg wird künftig möglicherweise über Kontinente hinweg arbeiten können. Die geschicktesten Spezialisten für exotische Krankheiten oder Prozeduren bleiben in ihrer Klinik, können aber weltweit Patienten helfen.
Realität und Virtualität verschmelzen zusehends
Hier zeigt sich wieder der Trend der größeren Verschränkung von Realität und Virtualität. Auch die politischen Großereignisse der jüngeren Vergangenheit hatten ihren Ursprung in der Netzwelt, brachten aber schnell die Politiker in den Parlamenten ins Schwitzen. So hatten die antirassistischen Proteste der vergangenen Wochen ihren Ursprung im Tod des Amerikaners George Floyd – der unter „ferner liefen“ in der Polizeistatistik verschwunden wäre, wenn es kein Video im Netz gegeben hätte.
Einen unauffälligeren, aber ebenfalls beachtenswerten Erfolg hat ein informelles Netz von Kids auf Tiktok erzielt, die eigentlich mehrheitlich Fans koreanischer Popmusik sind. Einem vielfach geteilten Aufruf folgend haben sie online Tickets für einen groß geplanten site vorbestellt. Die Organisatoren rechneten mit einem gewaltigen Andrang und ließen noch Außenbühnen mit Großbildschirmen errichten. Es kam aber nur ein Bruchteil der erwarteten Teilnehmer. Im Stadion war ein Drittel der Plätze leer, Trump war schwer enttäuscht – seine Berater hatten von einer Million vorbestellter Tickets geschwärmt.
Die künstlichen Welten sind so für eine Mehrheit der Menschen immer realer, und sie wirken auf die reale Welt zurück. „Es ist schließlich am Ende immer noch die eine, die gleiche Welt“, sagt Beckedahl. Zugleich keimt derzeit der ergänzende Gegentrend auf: digitaler Entzug und digitale Entgiftung. Junge Männer schwören in der „NoFap“-Bewegung der Internetpornografie ab, Psycho-Kliniken bieten Programme an, um der Reizüberflutung durch das Smartphone Herr zu werden. Der Erfolg von Büchern wie „Jetzt pack doch mal das Handy weg! Wie wir unsere Kinder von der digitalen Sucht befreien“ belegt, dass sich hier ein Problem aufgetan hat.
Von einem wirklichen Rückzug aus den künstlichen Welten kann jedoch keine Rede sein. Stattdessen hat die Corona-Pandemie der Digitalisierung einen kräftigen Schub gegeben; Konferenzen haben sich in künstliche, digitale Umgebungen verlagert, in denen eigene Regeln gelten. Corona hat weitere Lebensbereiche unumkehrbar ins Netz verschoben – und damit den großen Digitaltrend des Jahrzehnts gleich zu dessen Anfang beschleunigt.