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Update: Wir waren dabei

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Von: Kathrin Passig

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Authentisch soll es sein.
Authentisch soll es sein. © Hans Lucas/Imago

Artikel und Sachbücher enthalten oft atmosphärische Details, die nichts zum Thema beitragen. Was soll das?

Ich kann diesen Sachbuchstil nicht mehr sehen“, sagt die Kolumnistin und seufzt. Ihre Frisur sieht aus, als hätte sie sie selbst mit der Nagelschere geschnitten, ohne hinzugucken. „Warum müssen diese ganzen Wissenschaftlerinnen und Firmengründer immer persönlich besucht werden, und warum muss ich lesen, wie die Buchautorin in ihre Büros geführt wird und welche Topfpflanzen dort herumstehen?

Man könnte doch auch einfach eine Mail schreiben oder anrufen, wenn man was wissen will. Meinetwegen mit Video, vielleicht ist dann sogar die Topfpflanze im Bild.“ Sie nippt an ihrem Kiefernnadeltee.

„Das kommt bestimmt wieder alles in den Text“, sagt sie dann aufgebracht. „Als ob meine Frisur irgendwas zur Beantwortung der Frage beiträgt, oder mein Getränk! Ich weiß schon, wegen der Atmosphäre! Oder irgendwas mit Authentizität! Aber das erklärt doch überhaupt nichts.“

Alexander Krützfeldt ist Autor und Reporter und weiß vielleicht mehr darüber. Wir besuchen den untersetzten rothaarigen Mittvierziger in seinem selbstgebauten Schreibschrank. Es ist etwas eng darin für den Autor, das Reportage-Wir und die Kolumnistin. Krützfeldt trägt seine „Inspirations-Gummistiefel“ mit dem Karomuster und trinkt ein Craft-Beer nach dem anderen, bis er schließlich zur Sache kommt: „Redaktionen möchten gerne, dass du da bist. Du möchtest auch gerne, dass du da bist, um die Strapazen deiner Arbeit zu dokumentieren gegenüber den Redakteuren, die dich zu schlecht bezahlen.“

„Importanzmobilität!“, ruft die Kolumnistin. „So heißt das bei Luisa Neubauer, in ihrem Buch …” Sie sucht in ihrem Handy, einem noch fast neuen Android-Modell, das in einer Hülle mit rosafarbenen Glitzersteinchen steckt. Ohne sich von 381 ungelesenen Benachrichtigungen ablenken zu lassen, findet sie das E-Book „Gegen die Ohnmacht“ und liest das Zitat vor: „Viele Menschen bemerkten seit der Pandemie, zu wie vielen sinnfreien Geschäftstreffen sie geschickt worden sind, die man leicht hätte online abwickeln können. Zu denen sie fliegen mussten oder unzählige Autobahnkilometer abspulten. Man wusste nicht, ob das Treffen so wichtig war, das alles zu rechtfertigen, aber man flog hin, also musste es wichtig sein.“

Hier schreibt Kathrin Passig jede Woche über Themen des digitalen Zeitalters. Sie ist Mitbegründerin des Blogs „Techniktagebuch“. www.kathrin.passig.de
Hier schreibt Kathrin Passig jede Woche über Themen des digitalen Zeitalters. Sie ist Mitbegründerin des Blogs „Techniktagebuch“. www.kathrin.passig.de © Norman Posselt

„Genau so ist das bei Reportagen auch“, behauptet die Kolumnistin, „die weite Anreise versichert allen, dass die Sache wichtig ist. Wenn das so eine Expertin ist, die niemand kennt, dann muss man sie in ihrem Büro besuchen, und das liegt dann in einer bekannten Uni.“ Wenn jemand schon sehr bekannt sei, bringe das Büro wenig, dann sei ein Hausbesuch fällig, zur Not ein ausgedachter: „so wie bei Seehofers Modelleisenbahn“. Der „Spiegel“-Redakteur René Pfister hatte 2011 für ein Porträt von Horst Seehofer einen Preis für die beste Reportage des Jahres erhalten. Der Text begann mit vier Absätzen über Seehofers Modelleisenbahnkeller. Während der Preisverleihung sagte Pfister, er sei gar nicht in diesem Keller gewesen. Wenige Tage später wurde ihm deshalb der Preis wieder aberkannt.

„Eigentlich schreiben die solche Details wahrscheinlich vor allem für ihre Redaktionen rein und für andere Leute aus der Branche“, vermutet die Kolumnistin. Sie zeigt einen ergoogelten Artikel herum. Darin wird Oscar Tiefenthal zitiert, der Leiter einer Journalistenschule: „Wer die Story von Pfister lese, denke automatisch: ‚Toll, wie kommt der Kerl in den Keller von Horst Seehofer!‘“ Das sieht die Kolumnistin anders: „Als Leserin denkst du dir das ja gar nicht. Da nimmst du einfach an, die kennen sich schon aus der CSU-Studienstiftung und treffen sich jeden Samstag zum Modelleisenbahnspielen. Nur Leute, die selber solche Texte schreiben, finden das beeindruckend.“

„Kann sein“, sagt die Kolumnistin abschließend, „dass das früher schon genauso war in Sachbüchern und in Reportagen. Vielleicht hat es mich nur weniger gestört. Aber das glaube ich nicht! Ich glaube, es liegt an der Technik. Erst seit man nicht mehr hinfahren müsste, um was rauszufinden, sind diese ganzen Beschreibungen von Frisuren und Getränken und Büroeinrichtungen aufgetaucht. Damit niemand denkt, aha, da hat jemand alles einfach nur im Internet zusammenrecherchiert.“ Ob sie dafür Belege hat, wollen wir wissen. Also zum Beispiel Stichproben aus Sachbüchern und Reportagen der Prä-Internet-Zeit genommen und mit neueren verglichen? „Belege habe ich dafür natürlich keine. Soll halt jemand anders belegen, dass es nicht so ist. Oder einen Experten in seinem Büro aufsuchen und den fragen, am besten sehr weit weg, dann wirkt es wichtiger. Ich leg mich jetzt wieder hin.“ Und dann legt sich die Kolumnistin wieder hin.

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