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Nach drüben

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Von: Kathrin Passig

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Nach drüben gehen – und wie?
Nach drüben gehen – und wie? © Judith Kohl

„Wenn dir die Regeln hier bei Irgendein-Soziales-Ding nicht passen, dann geh doch woanders hin“ – so einfach ist es nicht.

Meine Eltern protestierten oft gegen Eigenheiten der katholischen Kirche, die ihnen nicht passten: Einmischung in die Empfängnisverhütung, Zölibat für Pfarrer, Ausschluss von Frauen, Rolle des Papstes. Ich habe dazu immer gesagt: „Werdet halt evangelisch, da ist alles so, wie ihr euch das wünscht!“ Das war in der Sache korrekt, aber vielleicht auch ein bisschen schäbig von mir.

Denn natürlich wollten sie das nicht. Sie wollten sonntags weiter in das gleiche Kirchengebäude gehen und dort die selben Leute wie bisher treffen.

„Geht doch nach drüben!“ sagte man früher in Westdeutschland ironisch, halb-ironisch oder ernsthaft zu Leuten, die mit den Verhältnissen unzufrieden waren. Mit „drüben“ war die DDR gemeint. Der Satz war so beliebt, dass er heute einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat. Über Länder hört man ihn seit dem Ende der DDR nicht mehr, aber im Internet wird er täglich geäußert: Wenn dir die Regeln hier bei Irgendein-Soziales-Ding nicht passen, dann geh doch woanders hin. Zwingt dich ja niemand, ausgerechnet hier zu sein.

Ich habe das Argument selbst schon verwendet, 2011 in einem Text über „Sümpfe und Salons“ im Internet. Man sei, schrieb ich damals, selbst dafür verantwortlich, nicht dort herumzulungern, wo einem das Niveau der Auseinandersetzung missfällt. „Das ,Wenn’s dir hier nicht passt, dann geh doch nach drüben‘, das im Zusammenhang mit Ländern nur sehr begrenzt funktioniert, ist im Netz ein praktikabler Vorschlag. Und wenn es das gesuchte Drüben nicht gibt, kann man es immer noch gründen.“

Das war teilweise richtig: Im Internet an einen anderen Ort umzuziehen ist leichter, als es gewesen wäre, aus der BRD in die DDR umzuziehen. Andererseits ist es ganz so einfach auch wieder nicht. Manche Orte gibt es auch im großen Internet nur einmal, und sie sind nicht von heute auf morgen durch irgendwelche Ausweich-Orte ersetzbar. Nicht immer gibt es einen anderen Ort, an dem das kritisierte Problem schon gelöst wäre. Und selbst in einem idealen Internet, in dem die Community „Corgi-Züchter:innen gegen Rechts“ in so vielen Varianten existiert, dass man jederzeit in eine besser passende umziehen kann, kommen ja nicht alle netten Menschen aus der bisherigen Gruppe mit in die neue. Man muss also einen Teil des bisherigen Soziallebens hinter sich lassen. Wie bei einem Umzug in die DDR oder einem Kirchenwechsel.

Hier schreibt Kathrin Passig jede Woche über Themen des digitalen Zeitalters. Sie ist Mitbegründerin des Blogs „Techniktagebuch“. www.kathrin.passig.de
Hier schreibt Kathrin Passig jede Woche über Themen des digitalen Zeitalters. Sie ist Mitbegründerin des Blogs „Techniktagebuch“. www.kathrin.passig.de © Norman Posselt

Das vorgeschlagene Selbergründen ist für die meisten keine Option. Manchmal ist es technisch aufwendig oder kostet Geld, so wie das Betreiben eines eigenen Mastodon-Servers. Manchmal ist es nicht weiter schwierig, zum Beispiel wenn man nur eine neue Facebookgruppe, ein neues Subreddit oder ein neues Discord mit anderen Regeln gründen möchte. Aber auch dann sind die meisten nicht in der Lage, die nötige Moderation ab jetzt selbst zu übernehmen – schon weil das viel Zeit kostet. Man darf sich andere Regeln für das Zusammenleben wünschen, auch wenn man so eine bessere Welt nicht selbst ins Leben rufen kann. Und man sollte das nicht nur im Stillen tun, sondern diesen Wunsch auch äußern. Nur so können Änderungen diskutiert und irgendwann vielleicht umgesetzt werden. Das „Geh doch nach drüben, wenn’s dir hier nicht passt“-Argument bedeutet oft nur „Geh doch weg mit deiner Kritik, ich will sie nicht hören und nicht darüber nachdenken“.

Das ist nicht schön, aber weite Teile des sozialen Internets beruhen in der Praxis darauf, dass Unzufriedene zum Weggehen ermuntert werden. „Ich habe hier das Hausrecht (und keine Lust auf diese Diskussion)“, argumentieren die Zuständigen. Vor 20 Jahren hätte ich „Hell yeah! Anders geht es gar nicht!“ gesagt. Schließlich ist man in so einer Internetcommunity in den meisten Fällen zum Vergnügen und nicht, um dieselben anstrengenden Debatten zu führen wie am Arbeitsplatz oder in der Politik. In 20 Jahren werde ich vielleicht sagen, dass es so eben nicht geht und man auch in den kleinsten Spaßprojekten offen sein muss für Diskussionen über Regeln, weil Mitbestimmung fraktal ist und wir uns nicht in unserer Freizeit an das Leben in Mini-Diktaturen gewöhnen dürfen. Im Moment sitze ich zwischen den Meinungen und kann nur dokumentieren, dass „Geh doch nach drüben!“ im Internet ein noch beliebterer Satz ist als damals in Westdeutschland.

Es ist sicher falsch, grundsätzlich auf jede Kritik mit „Kannst ja gehen, wenn’s dir hier nicht passt“ zu reagieren. Wenn man selbst unzufrieden ist, ist es manchmal sinnvoll, zu bleiben und auf eine Änderung der Regeln hinzuarbeiten. Manchmal ist klar, dass das nichts bringt, und man muss eine Alternative gründen (oder abwarten, bis jemand anders es tut). Aber wenn es diese Alternative bereits gibt und man mit geringen Umzugsschmerzen wechseln kann: Dann sollte man das ruhig ab und zu mal tun.

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