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Hört einander zu

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Von: Sandra Danicke

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Arbeit der Gruppe Atis Rezistans/Ghetto Biennale aus Haiti in der Kirche St. Kunigundis.
Arbeit der Gruppe Atis Rezistans/Ghetto Biennale aus Haiti in der Kirche St. Kunigundis. © Uwe Zucchi/dpa

Ist diese Documenta antisemitisch? Wohl kaum.

Hatte ernsthaft jemand erwartet, auf der documenta fifteen ein antisemitisches Kunstwerk sehen zu müssen? Wohl nicht. Wird man auf dieser Ausstellung auf antisemitische Grundhaltungen stoßen? Es kommt darauf an, wer mit welcher Absicht danach sucht. Bereits im Vorfeld wurde mit Unterstellungen gearbeitet, die im Wesentlichen haltlos waren, wurde aus BDS-Nähe Antisemitismus, aus einem palästinensischen Reformpädagogen ein glühender Antisemit gemacht. Die Vorverurteilungen waren so massiv, dass es kaum noch möglich ist, das Thema Antisemitismus nicht mitzudenken, wenn man sich auf diesem gewohnt opulenten Ausstellungsparcours bewegt.

Ruangrupa hätte aus Gründen der Parität israelische Künstler:innen einladen müssen, hieß es, in der FAZ wurde sogar verlangt, sie hätten ein marginalisiertes Volk aus Papua einbinden müssen, um sich glaubwürdig gegen Unterdrückung zu positionieren. What?! Seit wann ist es an Journalisten, Politikern, Religionsführern (ja, diese Forderungen wurden von Männern gestellt), dem Kuratorenteam einer Ausstellung vorzuschreiben, wen sie warum hätten einladen müssen? Und das zu einem Zeitpunkt, an dem über das Ergebnis noch so gut wie gar nichts bekannt war.

Man müsse in Deutschland andere Parameter anlegen als in anderen Ländern, hieß es. Der historischen Verantwortung wegen. In einem unerträglichen Paternalismus-Gehabe befanden zahlreiche Autoren Ruangrupa hätten von der deutschen Provinz keine Ahnung, sie hätten sich daher ungeschickt verhalten. Nun ist es weder so, dass das Kollektiv dem Staat Israel das Existenzrecht abgesprochen hätte, noch haben Mitglieder der Gruppe den Holocaust verharmlost.

Eine andere Sichtweise

Ruangrupa haben Kollektive eingeladen, die aufgrund ihrer Herkunft und Erfahrungen eine andere Sichtweise auf die Welt und ihre Konflikte haben. Man kann und muss mit diesen Menschen diskutieren, wenn man sich für die Komplexität der Welt interessiert. Unterstellungen sind da keine Hilfe.

Und ja: Man findet auf dieser Ausstellung deutliche Kritik gegen die israelische Besatzungspolitik, geäußert von palästinensischen Kollektiven, die von unhaltbaren Lebens- und Arbeitsbedingungen berichten. Tatsächlich findet man auch politische Positionen, die man womöglich nicht teilt. Positionen, die man gar nicht versteht – ohne sich intensiv mit Details zu beschäftigen. Sie von vornherein abzulehnen, zeugt von Überheblichkeit.

Die Behauptung, man dürfe in Deutschland aufgrund seiner Geschichte nur bestimmte politische Vorgehensweisen kritisieren, andere hingegen nicht, die Forderung, man dürfe in einer Stadt wie Kassel keine europäische und erst recht keine globale Perspektive einnehmen, ist grotesk. Antisemitismus ist scharf zu verurteilen, überall auf der Welt. Ein völkerrechtswidriges Vorgehen ist kritikwürdig, überall auf der Welt.

Wir leben in Zeiten, die massiv verunsichern. In denen wir unsere unumstößlich geglaubten Überzeugungen fast täglich neu hinterfragen müssen. In denen Prinzipien wanken, Freiheitsbegriffe und ethische Gewissheiten überdacht werden müssen. In denen wir noch mehr als bisher miteinander reden müssen.

Es gibt keinen besseren Zeitpunkt für eine solche Documenta als gerade jetzt. Ruangrupa haben das Reden miteinander zum obersten Prinzip erhoben. Dass das im Vorfeld nicht geklappt hat, eine Gesprächsreihe abgesagt wurde, ist ihnen nicht allein anzulasten. Wenn diese an prominenten, auratischen Werken eher arme Großausstellung überhaupt einen Sinn haben soll, dann den, dass man einander zuhört.

Transparenzhinweis: Der Text ist kurz vor der Eröffnung der Documenta 15 erschienen. Damals war ein Werk der Künstlergruppe Taring Padi, das antisemitische Darstellungen enthält, noch nicht öffentlich zu sehen. Inzwischen stellt sich die Situation in Kassel leider anders dar.

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