Karakaya Talks: Zwangsläufig politisch

Esra Karakaya geht mit ihren Internet-Talks gegen Zerrbilder an – dafür wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Heute steht ihre Community für sie im Vordergrund. Eine Begegnung in Berlin.
Von Olivier David
Ein Berliner Shisha-Bar-Restaurant-Hybrid. Esra Karakaya kommt ein paar Minuten zu spät, ist dann aber voll da. Sie trägt eine Bomberjacke in Dunkelgrün, ihre Haare sind von einem beigefarbenen Hijab bedeckt. Karakaya ist eine Eisbrecherin. Wenn sie lacht, dann aus ganzem Herzen. Sie bestellt Ginseng-Tee und eine Shisha, Tabaksorte Lemon Chill.
Esra Karakaya studierte Medienwissenschaften, schloss mit dem Bachelor ab, unterbrach den Master, um selbst vor der Kamera zu stehen: bewegte Praxis statt grauer Theorie. Im Jahr 2018 veröffentliche sie die ersten Folgen ihres „Black Rock Talk“ bei Youtube. Der Name: die englische Übersetzung ihres Nachnamens.
Und anders als gewohnt entstammten ihre Gäste erfrischend selten der typischen Gattung linearer Talkformate: männlich, weiß, hetero, alt. Als bekennende Hijabi lud Karakaya andere befreundete Menschen mit Kopftuch ein, Schwarze Frauen und Männer, People of Color, die schon in dritter Generation in Deutschland leben, die aber für die Mehrheitsgesellschaft aufgrund ihrer Definitionsgewohnheiten nicht als Deutsche gelten.
Hier und da drifteten die Gespräche ein wenig ab, als würden sich befreundete Menschen privat unterhalten, denn es gab einiges nachzuholen, das das deutsche Fernsehen über Jahrzehnte systematisch ignoriert hatte: „Kopftuch abnehmen oder nicht?“ hieß eine der Fragen, „Darf über Gewalt gelacht werden?“ eine andere.
Bei Funk sollte Esra Karakaya mit ihren Inhalten auch „Lisa“ aus einer AfD-Familie abholen
Es ging etwa um antimuslimischen Rassismus oder um Diskriminierung in der Beauty-Industrie. Black Rock Talk als Bildungsauftrag und Empowerment-Programm in einem. Fünfstellige Aufrufe zählen die Folgen. Esra Karakaya selbst folgen auf Instagram heute fast 30 000 Menschen. 2019 stieg Funk ein, das junge Contentnetzwerk von ARD und ZDF – und aus Black Rock Talk wurde „Karakaya Talk“, aus Bubble-Journalismus das Bedienen von Zielgruppen.
Plötzlich ging es um Personas, also erfundene Durchschnittszuschauende wie Tugçe, 23, aus Berlin, die als erste in ihrer Familie studiert. Es ging um Lisa vom Land, die aus einer Familie kommt, die AfD wählt, und um weitere, die zu bedienen von Folge zu Folge unmöglicher wurde.
Esra Karakaya erklärt die Schwierigkeit, alle gleichermaßen abzuholen anhand der Tasse, die vor ihr steht. Sie zeigt auf den Henkel. „Dann mach nochmal hier einen Henkel ran für Lisa, hier noch einen runden und hier, auf der anderen Seite, einen eckigen. Dann hast du eine Tasse mit tausend Griffen, aber du kannst nicht mehr aus ihr trinken, weil du sie nicht greifen kannst.“ 2020 wurde „Karakaya Talk“ bei Funk eingestellt. Der Grund: zu wenig Klicks.
Nach zwei Podcast-Folgen mit Jan Fleischhauer stoppte Karakaya das Projekt
In Karakayas Karriere gibt es zwei gegenläufige Bewegungen. Da wären zum einen die Funk-Geschichte und, ein Jahr später, der gescheiterte Podcast mit dem konservativen Kolumnisten Jan Fleischhauer. Karakaya stieg aus dem vom Magazin „Focus“ produzierten Podcast „Die falschen Fragen“ nach zwei Folgen aus. Zu viel Aufwand für zu wenig Zählbares, sagt sie rückblickend. Sie habe Druck vonseiten ihrer Bubble bekommen, mutmaßte Ex-Co-Host Fleischhauer. Die andere Bewegung ist die der medialen und kulturellen Anerkennung. 2020 erhielten Karakaya und ihr Team den Grimme Online Award und den Axel-Springer-Preis für junge Journalisten, 2021 den Hildegard-Hamm-Brücher-Preis.
Wieso sie sich entschieden hat, die Auszeichnung des Springer-Verlags anzunehmen, steht der in seiner Berichterstattung doch für teils rassistische Positionen? „Da stand Geld dahinter“, ihre lapidare Antwort. „Wir waren frisch raus bei Funk. Und Preise helfen nun mal, Investitionen zu bekommen.“ Geht es um Karakayas Vision und um ihr Team, sticht Pragmatismus Idealismus.
Nach dem Aus bei Funk war für Karakaya klar, dass es weiter geht. Sie und zwei weitere Festangestellte, dazu eine Handvoll Selbstständige arbeiten weiter an ihrem Traum: „Journalismus ist nicht unser höchstes Gut. Journalismus ist unsere Methode, es zeigt, wie wir arbeiten. Wenn wir Content kreieren, recherchieren wir, machen Faktenchecks.“ Aus „Karakaya Talk“ wurde „Karakaya Talks“ – mit s am Ende – und mehr denn je steht ihre Community im Mittelpunkt. Das Format finanziert sich auch durch monatlich zahlende Mitglieder. Die Zahl der Klicks ist zwar gesunken, dafür ist der Druck der Sendeanstalten weg.
Mit dem Thema Repräsentanz sei sie durch, sagt Esra Karakaya
Und auch diesmal gibt es wieder eine ausgedachte Persona: Reema geschrieben, Rihma gesprochen, mit rollendem R. Der Unterschied ist, dass es allein um sie geht – keine Lisas, die sie bedienen muss.
Ihr Team sei selbstverständlich divers, sagt Esra Karakaya. Mit dem Thema Repräsentanz sei sie durch. Es gehe um ihre Leute, nicht allein um Inhalte. Ob Schmink-Tutorial oder Rassismusreflexion, für die Moderatorin ist das zweitrangig, denn sie versteht sich als Dienstleisterin. Karakayas Agenda schließt aber Politisches nicht aus, denn Reemas Leben, ob sie will oder nicht, ist ein politisches.
Selbst wenn sie sich nur für Mode und Popkultur interessierte, wäre sie noch immer ein politisches Subjekt – in einer Mehrheitsgesellschaft, die Hanau für einen Einzelfall und die AfD für eine harmlose rechte Partei hält.
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Was Esra Karakaya gerne mal über sich lesen würde? „Gründerin von Medienimperium wird Multimillionärin“, sagt sie, lacht und schickt ein „saaaafe“ hinterher. Aus ihr spricht, wenn sie das so sagt, der Habitus des Rap. Der unbedingte Wille zum Aufstieg vereint mit der Überzeugung, dass ihr ein Teil des Kuchens zusteht. Aus sozialromantischer Perspektive ist es die Herkunft, die da aus ihr spricht – nicht die türkisch-koreanischen Wurzeln ihrer Eltern, sondern der Berliner Wedding.
Das nächste Interview steht an, dieselbe Bar, andere Menschen. Dalal Mahra vom Instagramkanal Kopftuchmädchen dreht mit Esra Karakaya ein Video. „Was ist dein Lieblingsland, wo du gerne hinreist?“, fragt sie. „Narnia“, antwortet Karakaya ohne zu zögern. Nächste Frage: „Was möchtest du erreichen?“ – „Ich habe alles, was ich brauche“, sagt sie. „El hamdulillah“, Gott sei Dank, antwortet Mahra. Karakaya, die Noch-nicht-Multimillionärin, die alles hat, was sie braucht? „Saaaafe“ hallt ihre Stimme nach.
Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit dem Magazin „Veto“ , das sich der engagierten Zivilgesellschaft widmet.