- 0 Kommentare
- Weitere
Update
Digitale Sedimente
- vonKathrin Passigschließen
Ein digitales Speichermedium vergisst angeblich nichts. Doch wie lassen sich Inhalte wiederfinden?
Es ist jetzt schon wieder ein paar Jahre her, aber es gab eine Zeit, in der man der digitalen Technik häufig vorwarf, sie sei unfähig zum Vergessen. In den darüber erschienenen Texten wurde unweigerlich Ireneo Funes erwähnt, eine Figur aus einer Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges. Funes verfügt über ein perfektes Gedächtnis, und die Geschichte handelt von den Problemen, die dadurch entstehen: „Mein Gedächtnis, Herr, ist wie eine Abfalltonne“, sagt Funes selbst, und auch der Erzähler vermutet, „dass er zum Denken nicht sehr begabt war. Denken heißt, Unterschiede vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art.“ Ein digitales Speichermedium vergisst (im Idealfall, aber dazu kommen wir gleich) nichts. Wenn man das gerne wollte, lag es daher nahe, das Digitale allgemein oder das Internet im Besonderen ebenfalls eine Abfalltonne zu nennen, vollgepfropft mit Einzelheiten, unfähig zum Vergessen.
Der Vorwurf ist mittlerweile ein bisschen aus der Mode gekommen. Das kann daran liegen, dass Vorwürfe an „das Internet“ oder „die Digitalisierung“ eben ihre Verfallsdaten haben, mal geht es fünf oder zehn Jahre lang um mangelnde Haltbarkeit, dann wieder um die Unfähigkeit zum Vergessen, die Undurchschaubarkeit von Algorithmen oder etwas ganz anderes. Vielleicht ist aber inzwischen auch unübersehbar geworden, dass man eigentlich gar nichts wiederfindet.
Auf der untersten Speicherebene mag alles erhalten bleiben, solange niemand im Serverzentrum über das falsche Kabel stolpert. (Vereinfachte Darstellung, bitte schreiben Sie mir keine Beschwerdemails aus Serverzentren.) In der Praxis nutzt das wenig, weil man sich hier einige Ebenen oberhalb der bloßen Speicherung bewegt. Was ich ungefähr genauso häufig brauchen könnte wie eine Suchmaschine, wäre eine Wiederfindemaschine. Früher einmal gab es bei Google die Möglichkeit, die Suche auf Seiten einzuschränken, die man bereits besucht hatte.
Selbst wenn es diese Option noch gäbe, würde sie nicht mehr funktionieren. Was ich wiederfinden will, könnte mir auf zwei Geräten in acht verschiedenen Browsern, in E-Books, bei Twitter, in einem Video, als abfotografierter Zeitungsartikel, in einem Messenger oder in einer App begegnet sein. Vieles davon ist für Suchmaschinen unzugänglich, von den Problemen mit sich selbst löschenden Formaten wie Snapchat, Instagram Stories oder Fleets ganz zu schweigen. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der es schwierig sein konnte, Seiten im Netz nach ein paar Monaten wiederzufinden, wenn man alle spezifischen Suchstichworte vergessen hatte. Inzwischen vermeide ich sogar den Satz „Warte, das hab ich erst gestern gesehen, das finde ich gleich wieder“, weil ich weiß, dass er nur zu einer stundenlangen Suche ohne Ergebnis führt.
Das Wiederfinden ist nur ein kleiner Teil des Problems. Ständig lagern sich neue digitale Sedimentschichten ab und begraben das Vorhandene unter sich. Auch wenn theoretisch noch alles vorhanden wäre, lässt es sich in der Praxis nur so handhaben wie die menschliche Erinnerung. Manchmal gelingt es mir sogar, Einzelheiten wiederzufinden, die ich in der Vergangenheit gelesen habe, aber der Raum, in dem diese Dinge aufgetaucht sind und verhandelt wurden, bleibt unzugänglich.
Es gibt kein „absolutes Gedächtnis“, keine „technische Realisation einer totalisierten Erinnerung“. Die Gegenwart existiert nur ein einziges Mal. Eine vollständige Erinnerung lässt sich auch mit Hilfe digitaler Speichermedien nicht herstellen. Jedes Fundstück existierte ursprünglich in einem Kontext, der nicht mehr zu rekonstruieren ist. Selbst wenn nie etwas verloren ginge und alles zugänglich wäre, müsste die Rekonstruktion so umfassend sein wie die Gegenwart. Alles andere ist Erzählung, Verdichtung, Auswahl.
Als im Dezember 1895 die Brüder Lumière in Paris zum ersten Mal ihren Kinematographen öffentlich vorführten, hieß es in einem Bericht in der Zeitung „La Poste“: „Wenn diese Geräte in die Hände des Volkes geraten, wenn jeder die ihm nahestehenden Menschen fotografieren kann, nicht nur im unbewegten Zustand, sondern mit ihren Bewegungen, Handlungen, vertrauten Gesten und den Worten, die sie sprechen, dann wird der Tod nicht länger absolut und endgültig sein.“
Aus heutiger Sicht ist die Vorstellung von der Überwindung des Todes durch Filmaufnahmen keine naheliegende, und wir müssen uns erst wieder in die Verhältnisse von 1895 versetzen, um den journalistischen Überschwang annähernd nachvollziehen zu können. Mit derselben Verwunderung werden spätere Leserinnen und Leser die im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert entstandenen Texte über digitale Archive als perfektes Gedächtnis betrachten.