Wie rettet man die sieben Zehntel?

Die Vereinten Nationen verhandeln über einen Vertrag zur Einrichtung von Schutzzonen in internationalen Gewässern. Die „Hohe See“ und ihre dunklen Tiefen sind noch weitgehend unerforscht. Aber die wirtschaftlichen Begehrlichkeiten wachsen mit jedem Tag weiter.
Bis 2030 sollen zur Erhaltung der Artenvielfalt mindestens 30 Prozent der globalen Meeresfläche unter Schutz gestellt werden. Zu erreichen ist das aber nur, wenn nicht nur in nationalen Gewässern nahe der Küste, sondern auch auf „Hoher See“ Schutzzonen geschaffen werden. In New York unternimmt nun die Staatengemeinschaft seit einer Woche einen erneuten Anlauf, sich auf ein „Hochsee-Schutzabkommen“ über Meeresschutz in internationalen Gewässern zu einigen.
Für die deutsche Umweltministerin Steffi Lemke ist das angestrebte rechtlich verbindliche Abkommen ein wichtiger Teil des Meeresschutzes überhaupt. „Wir brauchen einen globalen Fahrplan für die Einrichtung von Meeresschutzgebieten, vor unseren Küsten genauso wie auf der Hohen See“, hatte sie Mitte Dezember 2022 auf der Weltnaturkonferenz in Montreal erklärt.
Dort hatten die 196 teilnehmenden Staaten im Weltnaturabkommen das 30-Prozent-Ziel festgelegt. Da China den Vorsitz der Biodiversitätskonferenz hatte, war in Montreal zunächst Skepsis zu spüren, ob tatsächlich ein nennenswerter Fortschritt erzielt werden könne. Die Vereinbarungen gingen dann nach Einschätzung vieler mit der Materie Vertrauter überraschend weit.
Die Verhandlungen in New York werden nun zeigen müssen, ob es trotz der geopolitischen Spannungen zwischen den USA, China und Russland und des Kriegs in der Ukraine gelingen kann, ein weiteres Abkommen zum Meeresschutz zu vereinbaren und damit das „Momentum von Montreal“ im Meeresschutz aufrechtzuerhalten.
„Die Staatengemeinschaft muss zeigen, dass sie es ernst meint. Zwei Drittel des Ozeans liegen außerhalb nationaler Gewässer, wir brauchen also das Abkommen zum Schutz der Hohen See, um das Versprechen von Montreal einhalten zu können“, erklärt Karoline Schacht, Meeresschutzexpertin beim WWF Deutschland. Bei den „zwei Dritteln“ spricht man auch oft von den „sieben Zehnteln“ der Erdoberfläche.
Ein verbindliches Abkommen sei Voraussetzung, das Ziel von 30 Prozent bis 2030 überhaupt zu erreichen, meint Thorsten Werner vom Naturschutzbund Deutschland (Nabu). Ziel müsse es sein, „ein möglichst detailliertes Regelwerk vorzulegen, welches die Ausweisung von Schutzgebieten auf der Hohen See regelt.“
Verhandlungen über einen Vertrag zum Schutz internationaler Gewässer hatten im September 2018 begonnen. Im August 2022 war ein Verhandlungsende in greifbarer Nähe, wegen einiger noch nicht geklärter Fragen wurden die Beratungen aber vertagt. Nun werden sie fortgesetzt. Am 3. März soll ein rechtlich verbindlicher „Vertrag über Biodiversität außerhalb nationaler Jurisdiktion“ (Biodiversity Beyond National Jurisdiction Treaty, abgekürzt BBNJ) vorliegen. Der Vertrag wird auf der Grundlage der UN-Seerechtskonvention „Unclos“ von 1982 ausgearbeitet.
Da kein Ministerial-Segment bei dieser Konferenz geplant ist, ist Umweltministerin Lemke nicht in New York anwesend. Zur deutschen Delegation wird aber der Meeresbeauftragte der Bundesregierung, Sebastian Unger, gehören. Die Umweltministerin wird dafür an der vom 1. bis 3. März in Panama stattfindenden „Our Ocean“-Konferenz teilnehmen, auf der über Fischerei und Schifffahrt, Munitionsbergung im Meer, Müllvermeidung und Korallenschutz gesprochen wird.
Literatur zum Thema
„Vom Meer“ ist ein wildes Panorama voller Liebeserklärungen und unerfüllten Sehnsüchten, das eine der mysteriösesten Figuren des britischen Literaturbetriebs, James Hamilton-Paterson, entwirft. Und es ist nicht sein einziges lesenswertes Buch übers nasse Element – oder über alle anderen Elemente.
Rose George ist eine der versiertesten Journalistinnen des globalen Dorfes, über dessen Vor- wie Nachteile sie seit 1994 schreibt. Eines ihrer bemerkenswertesten Bücher ist „Deep Sea and Foreign Going“ über die moderne Handelsschifffahrt, ohne die die industrielle wie auch die post-industrielle Welt Konkurs anmelden könnten.
Das Magazin „Mare“ wirbt seit 1997 für mehr Verständnis der Menschen fürs Meer. Das sechsmal im Jahr erscheinende Periodikum behandelt literarisch hochwertig jeden Aspekt der See, vom Schiffsalltag zur Seefahrerromantik, von Piratenabenteuern zur Zwangsarbeit für Hitlers Küstenfestungen, von der Hochseefischerei bis zur Flora und Fauna in der Tiefsee, von Strandfreuden bis zu Marinetragödien. rut
Als „Hohe See“ wird alles jenseits der 200-Seemeilen-Zonen der Küstenstaaten – auch genannt „Ausschließliche Wirtschaftszonen“ – bezeichnet. Das sind die Gewässer, die nicht der Hoheitsbefugnis der Küstenstaaten unterstehen. Für diese Gebiete bestehen nur wenig Regeln. Regionale Fischereiorganisationen können den Fischfang regulieren, es gibt zudem die Internationale Meeresbodenbehörde (International Seabed Authority/ISA), die über Bergbauvorhaben in internationalen Gewässern entscheidet.
Zur Zeit sind acht bis zehn Prozent der weltweiten Meeresflächen unter Schutz. Sie liegen aber vor allem in nationalen Gewässern. Auf Hoher See macht die Schutzfläche nur 1,4 Prozent aus. Da mehr als 60 Prozent der Meere internationale Gewässer sind, müssen dort große Schutzzonen eingerichtet werden, um 30 Prozent zu erreichen.
„Große Flächen der Hohen See zu konservieren, ist entscheidend für die Balance des Ökosystems und für den Erhalt einer Vielfalt von Arten, die in diesen Gewässern leben oder durch sie wandern. Viele dieser Arten, zu denen Haie, Thunfisch, Wale und Meeresschildkröten gehören, sind wichtige Akteure der Meeresumwelt“, sagt Nichola Clark von Blue Nature Alliance in Washington.
Wie schwierig es ist, internationale Gewässer zu schützen, zeigt sich im Südpolarmeer: Für Ulrich Karlowski von der deutschen Stiftung Meeresschutz ist „das seit Jahren andauernde Geschachere um die Einrichtung dreier neuer Meeresschutzgebiete in der Antarktis – und das wäre dann wirklich ein großer Wurf geworden – ein beredtes Beispiel“ für Probleme beim Meeresschutz.
Besondere Bedeutung kommen den Regeln über die Schaffung von Meeresschutzzonen (Marine Protected Areas/MPA) zu. Der Vertrag soll Zuständigkeiten und Verfahren zur Einrichtung vernetzter Schutzgebiete in internationalen Gewässern schaffen. Eine Frage ist, wer ein Schutzgebiet initiieren kann. Erwogen wird, dass eine Staatengruppe dies vorschlägt und ein wissenschaftliches Gremium, das durch den neuen Vertrag geschaffen wird, nach Konsultationen mit Staaten, Fischereiorganisationen, indigenen Völkern und der Wissenschaft darüber entscheidet.
Auch über Mechanismen, wie der Schutz überprüft wird, muss in New York gesprochen werden. Bevor menschliche Aktivitäten auf Hoher See genehmigt werden, etwa der Fischfang, müssen die potenziellen Auswirkungen ausgelotet werden. Diese „Environmental Impact Assessments“ spielen beim Umweltschutz eine immer größere Rolle. Und dann interessiert auch, wie Entwicklungsländer an ökonomischen Gewinnen beteiligt werden, wenn Industrienationen und dort beheimatete Unternehmen genetische Ressourcen, die sie aus internationalen Gewässern gewonnen haben, nutzen – etwa um neue Medikamente zu entwickeln.
Umweltorganisationen wollen darauf achten, dass der Vertrag nicht zu „Papierparks“ führt, also zu Schutzzonen, die nur auf dem Papier existieren, ohne aber tatsächlich die Natur zu schützen. Da sehen NGOs auch bei der EU und Deutschland noch Handlungsbedarf, um in Schutzzonen naturzerstörende Fischfangpraktiken wie die Grundschleppnetzfischerei zu beenden.