Doctors for Choice: „Wir erreichen Frauen, die sehr verzweifelt sind“

Alicia Baier, Mitgründerin von Doctors for Choice Germany, über Schwangerschaftsabbrüche zu Hause, die schlechte Versorgungslage in Bayern und Verbesserungen durch die Ampel-Koalition
Frau Baier, seit rund einem Jahr läuft das Projekt „Schwangerschaftsabbruch zu Hause“, bei dem der Abbruch telemedizinisch begleitet wird. Wie läuft das ab?
Das Ganze ist eine Kooperation des Familienplanungszentrums Balance in Berlin und dem Verein Doctors for Choice Germany. Wir bieten den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch mit Videobegleitung an. Das heißt, wir verschicken die Medikamente von Berlin aus deutschlandweit und betreuen in drei Videogesprächen, sowie über einen Chat und ein Bereitschaftstelefon, die immer zur Verfügung stehen, ungewollt Schwangere, die den medikamentösen Abbruch bei sich vor Ort durchführen. Wir beachten dabei alle rechtlichen Anforderungen, wir brauchen also alle Dokumente, die man bei einem Abbruch vor Ort auch braucht, zum Beispiel den Beratungsschein. Um das Schwangerschaftsalter zu bestimmen, benötigen wir außerdem ein Ultraschallbild. Dafür ist ein ärztlicher Besuch vor Ort notwendig.
Warum haben Sie das Projekt gestartet?
Die Versorgung von ungewollt Schwangeren in Deutschland ist sehr lückenhaft, gewisse Regionen sind teilweise ohne Ärzt:innen, die Abbrüche durchführen. Und wir hatten die Sorge, dass sich durch die Corona-Pandemie der Zugang weiter verschlechtern könnte. Gleichzeitig lagen zu dem Zeitpunkt erste Erfahrungen aus England vor, wo zu Beginn der Pandemie der telemedizinische Schwangerschaftsabbruch eingeführt wurde. Die waren sehr vielversprechend und wiesen darauf hin, dass das genauso sicher und genauso effektiv ist wie ein Abbruch vor Ort, die Zufriedenheit der Patientinnen sehr hoch ist und dass der telemedizinische Abbruch das Potenzial hat, den Zugang zu verbessern.
Haben Sie mit Ihrem Angebot die Situation in Deutschland etwas verbessern können?
Das Familienplanungszentrum hat begrenzte Kapazitäten, die Videosprechstunde haben wir zu viert betreut. Die riesige Versorgungslücke können wir so natürlich nicht füllen. Aber wir erreichen Frauen in unterversorgten Regionen, die schon eine lange Suche nach einer Praxis hinter sich haben und die oft sehr verzweifelt sind. Bis Dezember haben wir rund 140 Anfragen bekommen und etwa die Hälfte davon behandelt. Ungefähr die Hälfte der Patientinnen, die bei uns anfragen, kommt aus Bayern, wo die Situation besonders angespannt ist.
Gibt es Hürden, die den Schwangerschaftsabbruch per Telemedizin erschweren?
Wir mussten im Familienplanungszentrum erst mal einen Weg finden, das alles möglichst effizient zu organisieren, weil sehr viele verschiedene Schritte notwendig sind. Wir mussten zum Beispiel den Umgang mit der Post und den Dokumenten ausprobieren, um zu wissen, was wann losgeschickt werden muss. Der Zeitaufwand pro Patientin ist immer noch etwas höher als bei einem Abbruch vor Ort, weil wir drei Videogespräche haben, wir müssen alles koordinieren und wir haben den Chat, über den wir den gesamten Zeitraum in engem Kontakt mit der Patientin stehen. Mittlerweile haben wir einen guten Umgang damit gefunden, bei manchen Anfragen müssen wir aber auch absagen, weil wir nicht genug Kapazitäten haben. Es gibt aber auch Hürden auf der Seite der Patientinnen.
Inwiefern?
Die Patientinnen haben eine riesige Menge an Dokumenten, die sie erst einmal hochladen oder per Post schicken müssen. Das ist in Deutschland sehr viel bürokratischer als in England, wo viele Dinge wegfallen. Zudem haben wir gehofft, dass wir auch besonders marginalisierte Gruppen, wie migrantische oder geflüchtete Patientinnen, erreichen können. Ohne Übersetzungsmöglichkeit ist das bisher aber leider nicht möglich. Da bräuchten wir mehr Ressourcen, auch finanzielle.
Zur Person
Alicia Baier , 30, hat bis Dezember 2021 im Familienplanungszentrum Balance in Berlin die Videosprechstunde für den Schwangerschaftsabbruch zu Hause als Ärztin betreut. Sie ist Vorsitzende des Vereins Doctors for Choice Germany, den sie 2019 mitgegründet hat: ein deutschlandweites Netzwerk von Ärzt:innen, Medizinstudierenden und anderen, die sich für einen selbstbestimmten Umgang mit Sexualität und Fortpflanzung einsetzen – und insbesondere für einen besseren Zugang zum Schwangerschaftsabbruch. Seit Januar arbeitet Baier in einem Berliner Krankenhaus in der Geburtshilfe. thh
Der telemedizinische Abbruch war als Modellprojekt angelegt. Es klingt aber so, als liefe das jetzt weiter?
Genau. Eigentlich war es vor allem für die Zeit während der Corona-Pandemie gedacht. Aber wir merken jetzt schon, dass es nicht vorrangig beispielsweise Frauen in Quarantäne sind, die sich bei uns melden, sondern Frauen, die einfach in schlecht versorgten Regionen wohnen, unabhängig von der Pandemie.
Soll das Angebot auch auf andere Praxen ausgeweitet werden?
Ja, definitiv, es gibt auch interessierte Praxen. Das wird aber noch eine Weile dauern. Was aber ganz wichtig ist: Es geht nicht darum, die Versorgung vor Ort abzulösen, das wollen wir auf gar keinen Fall. Wir haben evaluiert, wie zufrieden die Patientinnen mit der Video-Betreuung waren: Sie waren sehr zufrieden und vor allem dankbar. Trotzdem wären viele, wenn sie hätten frei wählen können, lieber zu ihrer Gynäkologin vor Ort gegangen. Wir wollen, dass die Möglichkeit der Telemedizin aus freien Stücken gewählt wird, nicht aus der Not heraus – als eine Alternative unter mehreren.
Was verhindert denn, dass auch andere Praxen den telemedizinischen Abbruch anbieten?
Zum einen müssen die Kolleg:innen Erfahrung mit dem medikamentösen Abbruch haben. Da kommen gar nicht so viele Praxen in Frage, weil viele diese Methode nicht anbieten. Es gibt bürokratische Hürden, zudem ist die Methode immer noch stigmatisiert. Denn viele Vorbehalte halten sich auch in der medizinischen Community hartnäckig: Dass der medikamentöse Abbruch eine gefährliche, extrem schmerzhafte Methode sei, die in einem Drittel der Fälle nicht funktioniere und die Frauen danach noch einmal operiert werden müssten. Zum anderen ist es natürlich mit Aufwand verbunden, so ein neues Angebot zu etablieren. Man muss schon ein besonderes Interesse daran haben.
Die Ampel-Koalition will den Paragrafen 219a abschaffen, der es verbietet, über das Angebot von Schwangerschaftsabbrüchen zu informieren. Verbessert das die Lage?
Es führt dazu, dass die Information zugänglicher werden. Solange wir aber Paragraf 218 beibehalten, der den Schwangerschaftsabbruch als Straftat definiert, wird sich an der Versorgungslage nicht viel ändern. Es braucht auch eine Streichung von 218. Und unabhängig davon müssen von politischer Seite aus zusätzliche Anstrengungen unternommen werden.
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Was zum Beispiel?
Verhütung und Schwangerschaftsabbrüche müssen eine Krankenkassenleistung werden, das gehört zur medizinischen Grundversorgung. Über eine Art Versorgungsschlüssel müsste darauf eingewirkt werden, dass es in jeder Region, in jedem Landkreis Ärzt:innen gibt, die Abbrüche durchführen. Außerdem muss die Lücke bei der medizinischen Aus- und Weiterbildung angegangen werden, die es in puncto Schwangerschaftsabbrüche gibt. Man könnte damit mehr Ärzt:innen für diesen Bereich sensibilisieren, der schließlich genauso zum Fach Gynäkologie gehört wie die Geburtshilfe. Das Thema Ausbildung steht zumindest im Koalitionsvertrag, ich hoffe, dass da wirklich was passiert.
Interview: Ruth Herberg