„Schluss mit Sparen“: Immer mehr junge Menschen fordern alternative Finanzpolitik

Initiativen wie Fiscal Future, Tax me now und das Netzwerk Plurale Ökonomik wollen jungen Menschen zeigen, wie wichtig eine nachhaltige Finanzpolitik für ihre Zukunft ist
Frankfurt – Christian Lindner drückt auch mal ein Auge zu. Solange die Pandemie wütet, Corona-Hilfen gezahlt werden und Impfstoffvorräte angelegt werden wollen, solange bleibt die Schuldenbremse noch ausgesetzt. Aber ab 2023 ist es mit der Nachgiebigkeit des Finanzministers vorbei, das hat er gleich zu Beginn des neuen Jahres klargemacht. Dann soll wieder die reguläre Schuldenbremse gelten. Seine Kabinettskolleg:innen mahnt Lindner deswegen zur Sparsamkeit. Denn: „Wir haben eine Verantwortung gegenüber der jungen Generation.“
Die jungen Leute, wahlweise auch „unsere Kinder und Enkel“: Sie sind, wenn man den Beteuerungen im Wahlkampf glaubt, DIE wichtigste Klientel der FDP. Eine Klientel, die man vor der Verschwendungssucht der anderen Parteien bewahren will. Wer heute als Regierung Kredite aufnehme, häufe damit den Schuldenberg an, unter dem die nächste Generation ächzen werde, so der Tenor.
„Gefährden dringend benötigten Aufschwung“
Carl Mühlbach ist 25 Jahre alt. Er gehört zu dieser nächsten Generation und es regt ihn auf, wenn sie – wie er es nennt – „instrumentalisiert“ wird, um für Sparpolitik zu werben. Denn aus Sicht des Masterstudenten, der in Cambridge und Berlin Wirtschaftswissenschaften studiert hat, ist sie genau das Gegenteil von dem, was das Land und vor allem seine Generation derzeit braucht.

„Wenn wir uns jetzt einen absparen, dann gefährden wir den dringend nötigen Aufschwung.“ Die Schuldenbremse findet Mühlbach nicht mehr zeitgemäß, zumindest in ihrer aktuellen Form. Wer wirklich gute Grundlagen für kommende Generationen schaffen wolle, müsse investieren in Bereiche wie Bildung, Klimaschutz, Digitalisierung oder sozialen Ausgleich. „Niemand freut sich in 50 Jahren über niedrige Staatsschulden, wenn wir keinen lebenswerten Planeten mehr haben.“ Er ist überzeugt, dass Sparpolitik die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert, der Wirtschaft schadet, Gesundheits- und Bildungssysteme schwächt, Innovation bremst.
FDP positioniert sich als Partei für die Interessen Jugend – aber wie sieht die Jugend das?
Aber bei vielen Menschen verfange das Bild vom Staat als sparsamer schwäbischer Hausfrau, das auch Angela Merkel gerne verwendet habe, sagt Mühlbach. Aus seiner Sicht: ein deutscher Mythos. Dass Privatpersonen ihre Schulden abbezahlen wollten, bevor sie in Rente gingen und weniger Einkommen zur Verfügung hätten, sei sinnvoll. „Doch der Staat ist kein privater Haushalt, der in Rente geht, und Staatsschulden sind kein Kredit bei der Sparkasse.“ Ein Staat könne seine Schulden bedienen, indem er neue Kredite aufnehme, und wenn die Zinsen dafür – wie aktuell – niedrig seien, könne er dabei sogar gewinnen. Die deutsche Debatte sei voller Mythen, findet Mühlbach – das reiche von einer übertriebenen Angst vor Inflation bis zu der Überzeugung, dass öffentliche Investitionen private Initiative erdrückten.
Und weil er dem etwas entgegensetzen will, hat er im vergangenen Jahr die Initiative Fiscal Future ins Leben gerufen. Ihr Ziel: Jungen Menschen zu vermitteln, warum Finanz- und Fiskalpolitik auch sie etwas angeht, ihnen das Werkzeug an die Hand zu geben, um sich selbst eine Meinung zu bilden. Die Initiative versucht das beispielsweise auf Instagram – einer Plattform, auf der zwar viele junge Leute unterwegs sind, auf der aber Themen wie Finanzpolitik freundlich gesagt eher selten viral gehen. Wenn junge Menschen dort mit Wirtschaftsthemen konfrontiert werden, dann am ehesten von jungen Finanz-Influencern, die Anlagetipps und vermeintliche Strategien zum Reichwerden teilen, über Steuern und Bürokratie schimpfen. Einige von ihnen haben im Wahlkampf aktiv die FDP unterstützt.
Dem will die Initiative Fiscal Future etwas entgegensetzen, indem sie versucht, komplexe Themen herunterzubrechen und zuzuspitzen, etwa mit ihrer Social-Media-Kampagne #sparpolitikfacts. „Ärmere Haushalte leiden besonders stark unter Sparpolitik“, heißt es in einem Post, „Was hat Sparpolitik mit dem Brexit zu tun?“ in einem anderen. Antwort: Das Narrativ der „Alternativlosigkeit“ von Sparmaßnahmen führe dazu, dass Wählende empfänglicher für populistische Botschaften würden.
Fiscal Future, Tax me now & Netzwerk Plurale Ökonomik: Junge Menschen fordern neue Finanzpolitik
Carl Mühlbach hat eine klare Haltung zur aktuellen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Er wurde als Schüler bei Bildungsprotesten in seiner Heimatstadt Bremen politisiert und ist inzwischen SPD-Mitglied. Doch er will weder als Parteivertreter noch als Aktivist wahrgenommen werden und betont, Fiscal Future arbeite faktenbasiert und überparteilich, wolle niemanden zu einer bestimmten Meinung drängen. „Wenn mehr junge Menschen sich in die Debatte um Finanzpolitik einmischen, ist das erst mal gut, egal was sie sagen.“ Zum „Jugenddialog“ mit Fachleuten aus Wissenschaft und Politik war neben Politiker:innen von SPD und Grünen auch Ria Schröder eingeladen, die Vorsitzende der Jungen Liberalen.
Bislang haben die Aktiven die Arbeit ehrenamtlich gestemmt: vor dem nächsten Seminar den Instagramkanal bestückt, zwischen zwei Klausuren Studien zu Austeritätspolitik und Inflation gewälzt und nach der Arbeit Veranstaltungen organisiert. Künftig wird etwas weniger Multitasking nötig sein. Carl Mühlbach und einige seiner Mitstreiter:innen können Fiscal Future ab Mai zu ihrem Hauptjob machen. Denn kürzlich hat die Initiative stolz bekanntgegeben, dass sie mit einer halben Million Euro vom European Macro Policy Network gefördert werde. Neben Fiscal Future wird auch das Netzwerk Plurale Ökonomik gefördert, das sich um die Vielfalt der ökonomischen Lehre jenseits des neoklassischen Mainstreams bemüht.
Interessant dabei: Das European Macro Policy Network ist selber gerade erst von dem ebenfalls neuen Makrofinanz-Thinktank „Dezernat Zukunft“ aus der Taufe gehoben worden. Das Geld stammt aus einer insgesamt mehr als 3,5 Millionen Euro umfassenden Förderung der US-Stiftung „Open Philantrophy“, die mit ihrer Arbeit erklärtermaßen dazu beitragen will, dass Politiker:innen den Kampf gegen steigende Arbeitslosigkeit gegenüber dem Kampf gegen Inflation priorisieren.
Sparpolitik für die nächste Generation? Nein danke, sagen junge Initiativen
Das Dezernat Zukunft-Gründungsteam um die Anfangdreißigerin Philippa Sigl-Glöckner will Vorschläge für eine deutsche Finanzpolitik erarbeiten, „die den Bürgerinnen und Bürgern besser dient“. Der Thinktank fordert eine „Generalüberholung“ der Schuldenbremse, mehr Investitionen vor allem auf kommunaler Ebene und schlägt vor, sich statt fixer Schuldenquoten einen vollausgelasteten Arbeitsmarkt als Ziel zu setzen. Und mit ihren Vorschlägen haben sie längst die öffentliche Debatte aufgemischt. Erst Mitte Januar hat die „Zeit“ Sigl-Glöckner zu einem Streitgespräch mit Hans-Werner Sinn eingeladen, der lange als einflussreichster Ökonom Deutschlands galt. Fiscal Future, Dezernat Zukunft und das Netzwerk Plurale Ökonomik, aber auch Taxmenow - ein Zusammenschluss reicher Bürger:innen, die finden, dass sie und andere Vermögende zu niedrige Steuern zahlen –, das Forum New Economy, Finance Watch, das Netzwerk Steuergerechtigkeit oder die Bürgerbewegung Finanzwende: Immer mehr Initiativen setzen sich für einen Paradigmenwechsel in der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik ein. Für öffentliche Investitionen statt Austerität, für eine Steuerpolitik, die Umverteilung von oben nach unten ermöglicht, für politische Kontrolle von Finanzmärkten oder internationale Zusammenarbeit statt Kampf um Wettbewerbsvorteile.
Zumindest was Geld und Personal angeht, haben die Initiativen - trotz der Unterstützung aus den USA für einige von ihnen - der geballten Kraft der großen Wirtschaftsverbände und Lobbygruppen wenig entgegenzusetzen. Doch sie sind keineswegs nur einsame Rufer in der Wüste: Es kommt etwas in Bewegung. Die Krisen der vergangenen Jahre haben viele Menschen am Primat der Wirtschaft zweifeln lassen. Wo sich in der Finanzkrise zeigte, wie instabil globale Finanzmärkte werden können, wenn niemand sie kontrolliert, machten Klima- und Corona-Krise klar, dass sich mit dem Prinzip „Angebot und Nachfrage“ allein die existenziellen Probleme unserer Zeit nicht lösen lassen.
International ist das alte Paradigma des Sparens, Privatisierens und Deregulierens – auch als „Washington Consensus“ bezeichnet – auf dem Rückzug. Beim jüngsten Treffen der G7 im Süden Englands hoben die Staatenlenker:innen gar einen neuen „Cornwall Consensus“ aus der Taufe, der etwa Solidarität, „grünes und inklusives“ Wirtschaftswachstum und stärkere Regulierung globaler Märkte umfassen soll. Carl Mühlbach hat den Eindruck, dass sich der wissenschaftliche Mainstream zumindest im angelsächsischen Raum gewandelt hat. Und auch wenn er die finanzpolitischen Beschlüsse der neuen Koalition als „Trostpreis“ bezeichnet und sich mehr Mut und deutlichere Kritik an der Schuldenbremse gewünscht hatte, ist sein Eindruck, dass auch in Deutschland die Offenheit für andere finanzpolitische Positionen viel größer sei als noch vor einigen Jahren.
Die Eurokrise als Schlüsselmoment der Politisierung
Einiges deutet darauf hin, dass er damit recht hat. Dass etwa die Bundesregierung im vergangenen Jahr den sogenannten Corona-Bonds zustimmte, also gemeinsamen Schuldpapieren aller EU-Staaten zur Finanzierung pandemiebedingter Ausgaben, wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. „Keine Vergemeinschaftung von Schulden“, dröhnte es während der Eurokrise aus Berlin in Richtung Brüssel, Athen, Rom und Madrid. Stattdessen sollten die am höchsten verschuldeten Staaten „ihre Hausaufgaben“ machen: Sparen, Sozialsysteme beschneiden und privatisieren.
Carl Mühlbach war in dieser Zeit Schüler, mit Finanzpolitik hatte er nichts am Hut. „Ich hab‘ mich damals auch gefragt, warum wir für Griechenland zahlen sollen.“ Die Art, wie über die Krise berichtet worden sei, habe für ihn nur eine Deutung zugelassen: Dass die südlichen Staaten über ihre Verhältnisse gelebt hätten und jetzt der Rest Europas dafür aufkommen müsse. Trotzdem war die Eurokrise für ihn ein Schlüsselmoment: „Damals habe ich angefangen, mich für VWL zu interessieren.“ Erst im Studium in Großbritannien habe er dann eine andere Sichtweise kennengelernt, habe verstanden, dass die Defizite der südeuropäischen Staaten auch mit der Architektur des Euro zusammenhingen, die Staaten mit extrem ungleichen wirtschaftlichen Voraussetzungen in ein und dasselbe Währungssystem zwängt. Und dass Deutschland von dieser Konstruktion stark profitiert hat. Heute will er anderen diesen Perspektivwechsel ermöglichen, zeigen, dass es auch in der Ökonomie nie nur eine Wahrheit gibt.
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Dabei ist ihm klar, dass Wirtschafts- und Finanzpolitik im Gegensatz zu Klimaschutz oder Rassismus für die meisten jungen Menschen abstrakte, trockene Themen sind, weit weg von ihrem Leben. „Wir werden wohl nicht zwei Millionen Leute auf die Straße bringen. Müssen wir aber auch nicht.“ Die Strategie von Fiscal Future besteht darin, diejenigen jungen Menschen anzusprechen, die ohnehin schon aktiv sind – als Multiplikatoren. Sie bauen Kontakte zum Bundesjugendring auf, zu den Parteijugenden. Und beim „Jugenddialog“ der Initiative waren auch Helena Marschall und andere Vertreter:innen von „Fridays for Future“ dabei. Mühlbach erklärt es so: „Wir wollen denen, die sich für ein bestimmtes Thema engagieren, vermitteln: Hey, für eure Ziele braucht ihr die Finanzpolitik als Hebel.“ (Alicia Lindhoff)