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Hinschauen, wenn andere wegschauen

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Von: Pitt von Bebenburg

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Kämpfer gegen NS-Verbrecher und Schlussstrichdenken: der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. © picture-alliance / dpa

1963: Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer führt in Frankfurt den ersten Auschwitzprozess. Er bricht das Vergessen und Verdrängen der Nachkriegszeit auf

Viel zu viele wollten vergessen und verdrängen. Nur eine Minderheit kämpfte im Nachkriegsdeutschland dafür, sich der Auseinandersetzung mit den Naziverbrechen zu stellen, gegen gewaltige Widerstände. Der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer zeigte: Manchmal kann ein unbeirrbarer Mensch in der richtigen Position selbst solche Widerstände brechen.

„Die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen ist leider insgesamt eine Geschichte des Wegschauens, des Verdrängens und der Misserfolge“, hat Roman Poseck beklagt, der Präsident des Hessischen Staatsgerichtshofs und des Oberlandesgerichts Frankfurt. Aber Hessen habe mit Fritz Bauer und den Auschwitz-Prozessen „leuchtende und mutige Gegenbeispiele zu dem weitverbreiteten Schlussstrichdenken in der jungen Bundesrepublik“ gesetzt.

Die Naziverbrecher zeigten keine Reue. Fritz Bauer klagte darüber im Hessischen Rundfunk mit eindrucksvollen Worten. „Ich glaube, Deutschland würde aufatmen, und die gesamte Welt und die Hinterbliebenen derer, die in Auschwitz gefallen sind. Und die Luft würde gereinigt werden, wenn endlich mal ein menschliches Wort fiele“, sagte er, um bitter hinzuzufügen: „Es ist nicht gefallen und wird auch nicht mehr fallen.“

Das war 1964, wenige Monate nachdem der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess begonnen hatte. Formal handelte es sich um die „Strafsache gegen Mulka u. a.“, Aktenzeichen 4 Ks 2/63, vor dem Landgericht Frankfurt am Main. Doch die nüchterne Sprache der Justizakten drückt nicht aus, worum es eigentlich ging: den Versuch, die schlimmsten Menschheitsverbrechen mit den Mitteln des Rechts und der Öffentlichkeit aufzuarbeiten. Und damit das kollektive Verdrängen zu beenden.

Die Frankfurter Rundschau hatte einen gewichtigen Anteil daran, dass Fritz Bauer diesen Prozess in Gang setzen konnte. Oder zumindest ein Redakteur, der hessische FR-Landtagskorrespondent Thomas Gnielka. „Nach einem Skandal im Wiesbadener Wiedergutmachungsamt, über den Gnielka berichtet hatte, meldete sich bei ihm der Überlebende Emil Wulkan“, berichtet Sybille Steinbacher, die Direktorin des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts. Anfang 1959 übergab Wulkan dem Journalisten die sogenannten Breslauer Dokumente, Erschießungslisten aus Auschwitz mit den Namen und Daten der Mörder. Gnielka reichte die Dokumente an Bauer weiter. Mit deren Hilfe gelang es dem Generalstaatsanwalt, die Zuständigkeit der Prozesse nach Frankfurt zu holen. „Die FR, Fritz Bauer und der Auschwitz-Prozess haben in der Tat viel miteinander zu tun“, konstatiert Steinbacher deshalb.

Im ersten und größten Verfahren klagten Bauer und seine Kollegen 22 mutmaßliche NS-Täter an. Am 20. Dezember 1963 begann der Prozess, der zunächst im Sitzungssaal der Frankfurter Stadtverordneten die unfassbaren Verbrechen juristisch aufarbeiten sollte. Wer hören wollte, hörte 182 Verhandlungstage lang alptraumartige Schilderungen von Massenmorden.

Ab April 1964 ging der Prozess im Haus Gallus über die Bühne. Seit 2019 heißt der große Saal dieses Bürgerhauses „Fritz-Bauer-Saal“. Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) würdigte damit „einen großen Juristen, der gegen viele Widerstände durchgesetzt hat, dass an diesem Ort die Täter von Auschwitz für ihre Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus erstmals zur Rechenschaft gezogen wurden“.

Angeklagt war unter anderem SS-Oberscharführer Wilhelm Boger, den die Häftlinge „Bestie von Auschwitz“ nannten. Boger selektierte die Menschen bei der Ankunft und entwickelte ein Folterinstrument für die Verhöre. Zeugen berichteten, er habe sichtlich Spaß dabei gehabt. Im Frankfurter Prozess zeigte er keine Reue. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und starb 1977 im Gefängnis.

Insgesamt sechs lebenslange Haftstrafen wurden im ersten Auschwitz-Prozess verhängt, weitere Haftstrafen und drei Freisprüche. Die erschütternden Tondokumente, die Schilderungen der Opfer und die kalten Aussagen der Täter sind unter www.auschwitz-prozess.de zu hören, eingestellt vom Fritz-Bauer-Institut. „Wenn die Prozesse einen Sinn haben, so ist es die unumgängliche Erkenntnis, dass Anpassung an einen Unrechtsstaat Unrecht ist“, formulierte Bauer in unnachahmlicher Weise. Man spürt in den Worten seinen steten Zweifel, ob dieser Zweck der Prozesse sich erfüllen würde – und zugleich die tiefe Überzeugung, dass es nur auf diesem Weg glücken könne.

Die Öffentlichkeit schaute hin, die Wirkung auf die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust war nicht zu überschätzen – auch wenn die Urteile für die meisten Angeklagte relativ milde ausfielen, weil ihnen lediglich „Beihilfe zum Mord“ nachgewiesen wurde.

Bauer argumentierte, in einer industrialisierten Tötungsanstalt müsse eine direkte Tatbeteiligung für eine Mordanklage nicht nachgewiesen werden. Diese Rechtsauffassung sollte sich aber erst viele Jahrzehnte nach seinem Tod durchsetzen.

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In den 1960er und 1970er Jahren folgten weitere Prozesse wegen der Menschheitsverbrechen in Auschwitz. Bauer, der wenige Tage vor seinem 65. Geburtstag im Jahr 1968 starb, konnte nur noch einen Teil davon initiieren.

Bauer erwarb sich auch Verdienste, weil er die „Euthanasie“-Morde der Nazizeit verfolgte – Morde an Menschen, die mit Behinderungen lebten oder auf andere Weise von der Norm abwichen. Hier musste er noch ein zusätzliches Tabu überwinden, denn auch in der Nachkriegszeit hielt sich die furchtbare Einstellung zu „lebensunwertem Leben“ in Teilen der Gesellschaft. 1965 eröffnete Bauer die Voruntersuchung für den Prozess gegen NS-Juristen, die „Euthanasie“-Morde ermöglicht hatten. Wegen Bauers frühem Tod fand dieser Prozess jedoch nie statt.

Fritz Bauer kam aus dem Württembergischen, geboren in Stuttgart 1903. Er studierte Jura und Wirtschaftswissenschaften in Heidelberg, München und Tübingen. 1927 promovierte der junge Jurist bei Karl Geiler, der nach der Nazizeit von den Amerikanern zum ersten Ministerpräsidenten Hessens auserkoren wurde. Im Jahr 1930 wurde Bauer mit 26 Jahren Richter – der jüngste in der Weimarer Republik.

Bauer war Jude, er war Sozialdemokrat und von Anfang an ein entschiedener Nazigegner. Bereits 1933, kurz nach der Machtergreifung der Nazis, wurde der Jurist aus dem Justizdienst entlassen, festgenommen und acht Monate lang inhaftiert. 1936 floh er nach Dänemark, später nach Schweden, wo er mit Willy Brandt zusammenarbeitete. Erst 1949 kehrte Fritz Bauer nach Deutschland zurück. Er wurde Generalstaatsanwalt in Braunschweig, wo er dazu beitrug, die Widerstandskämpfer des 20. Juli juristisch zu rehabilitieren.

Für die Frankfurter Rundschau schrieb Bauer gelegentlich Gastbeiträge. So publizierte sie 1954 seinen Text mit dem programmatischen Titel „Schranke gegen die Barbarei“.

Von 1956 bis zu seinem Tod kämpfte Bauer als hessischer Generalstaatsanwalt unermüdlich für die juristische Aufarbeitung von nationalsozialistischen Verbrechen. Dabei versuchte er mit allen Mitteln, der Haupttäter habhaft zu werden. Der Holocaust-Organisator Adolf Eichmann wurde auch mit Bauers Hilfe in Argentinien aufgespürt, in Israel vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilte.

Bauer hoffte, auch Martin Bormann zur Verantwortung ziehen zu können, Adolf Hitlers Stellvertreter. Es gab Hinweise auf ihn und Bauer holte eigens einen jungen Staatsanwalt, um ihnen nachgehen zu können. Doch Bormann war, wie erst später festgestellt wurde, zu dieser Zeit schon tot.

Der Name Fritz Bauer sagte 1995 vielen Menschen nichts, als in Frankfurt das nach ihm benannte Institut gegründet wurde und zunächst unter Hanno Loewys Leitung die Forschung in Bauers Sinne intensiv fortsetzte. Erst weitere 20 Jahre später wurde der mutige Staatsanwalt auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt, als zwei Filme ihn und sein Wirken in Szene setzten. Gerd Voss spielte den unerschrockenen Juristen in „Das Labyrinth des Schweigens“, Burghart Klaußner in „Der Staat gegen Fritz Bauer“. Beide Filme beschränkten sich zwar auf Ausschnitte aus Bauers bewegter Biografie.

Doch einen entscheidenden Punkt zeigten sie deutlich: Bauer war umgeben von Altnazis in den Behörden und Geheimdiensten, die ihn zu Fall bringen wollten. Nur durch den Schutz des hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn (SPD) konnte Bauer seine wegweisende juristische Arbeit zum Wohle von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fortsetzen.

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Am 20. Dezember 1963 begann der erste Auschwitz-Prozess in Frankfurt. epd © Klaus-Jürgen Roessler / Keyston

In diesem Juli ehrte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) den großen Aufklärer, indem sie eine Büste im Foyer ihres Ministeriums aufstellen ließ, das nun „Fritz-Bauer-Foyer“ heißt. In ihrer Rede zitierte Lambrecht Bauers Worte: „Seid Juristinnen und Juristen, die dem Gesetz und Recht, der Menschlichkeit und dem Frieden nicht nur Lippendienst leisten.“ Daran solle die Büste die Bediensteten „auf dem alltäglichen Weg zur Arbeit“ gemahnen.

50 Jahre nach Bauers Tod, 2018, hatte die Staatsspitze der Bundesrepublik in der Frankfurter Paulskirche des vorbildlichen Staatsanwalts gedacht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte die Auschwitz-Prozesse eine „Wegmarke in der Geschichte der Bundesrepublik“. Er bedauerte, dass Fritz Bauer zu Lebzeiten nicht das Bundesverdienstkreuz verliehen worden sei.

Auch der Historiker Norbert Frei sprach bei diesem Gedenken. Keiner habe so konsequent die NS-Verbrechen aufgearbeitet wie Fritz Bauer. „Es gibt keinen Grund, ihn zu überhöhen“, urteilte Frei über den ehemaligen Generalstaatsanwalt. „Fritz Bauer war ein Held.“

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