Stroh für den Po
Klopapier wird meist aus Holz oder Recyclingmaterial hergestellt. Deutlich nachhaltiger geht es mit Stroh, sagt der „Zewa“-Hersteller Essity.

Es gibt sie noch, die Schätze, die sich buchstäblich vor den Füßen befinden, die nur darauf warten, aufgelesen zu werden. Rund 15 Millionen Tonnen Weizenstroh fallen jährlich in Deutschland an, schätzt Martin Wiens, nach der Ernte bleibe viel davon einfach auf den Feldern liegen.
Wiens, 55 Jahre alt, kam eher zufällig zu dem Thema. Er hat als Papieringenieur promoviert, arbeitet seit vielen Jahren für den schwedischen Konzern Essity. Wiens ist stellvertretender Leiter des Mannheimer Werks.
Produkte von Essity hatte fast jede und jeder schon einmal in der Hand, „Tempo“-Taschentücher zum Beispiel oder Toilettenpapier von Zewa. In Europa ist das Unternehmen bei diesen Produkten Marktführer, der Umsatz 2021 lag bei zwölf Milliarden Euro.
Toilettenpapier aus Stroh
Bisher wurde das Papier aus Holz hergestellt oder aus Recyclingmaterial. Bis eine findige, kleine US-Firma namens Sustainable Fiber Technologies ein Verfahren entwickelte, mit dem sich laut Essity quasi dasselbe Ergebnis erzielen lässt – mit Stroh.

Essity setzt das neue Verfahren im Industriemaßstab um. Das Unternehmen hat auf dem Werksgelände in Mannheim eine neue Produktionsanlage errichtet. Bilder zeigen eine gewaltige Metallkonstruktion mit Förderbändern, davor Stapel mit Strohballen. 70 000 Tonnen Stroh sollen hier pro Jahr über die Bänder rollen. Sie werden zu Zellstoff zerkleinert, am Ende spuckt die Anlage unter anderem Toilettenpapier aus.
Den Hintern putzten sich Menschen vermutlich schon lange vor der Erfindung des Papiers mit Stroh, angenehm war das eher nicht. Kein Vergleich zu heute. Die Qualität des Papiers sei „absolut ebenbürtig“ mit holzbasiertem Zellstoff, sagt Wiens, genauso weich, genauso reißfest. Und vor allem: deutlich besser für die Umwelt.
Weniger Wasser, weniger Energie
Laut Essity verbraucht die Produktion mit Stroh weniger Wasser und Energie. Bei der Verarbeitung von Holz oder Holzresten brauche es hohe Temperaturen und mehr Umgebungsdruck, um das Holz im Zuge der Verarbeitung „aufzuschließen“, das neue Verfahren sei milder. Und im Gegensatz zu Holz gebe es für Stroh weniger Verwendungsmöglichkeiten. Im besten Fall landet ein Rohstoff im Papier, der sonst verrottet wäre. Insgesamt hat der Strohzellstoff laut Essity einen um mindestens 20 Prozent geringeren ökologischen Fußabdruck als Zellstoff aus Holz- oder Recyclingfasern.
Bei der Produktion bleibt als Nebenprodukt Lignin übrig, eine Art Kleber, der die Fasern zusammenhält. Lignin entsteht auch bei der Holzverarbeitung, aber das Stroh-Lignin sei besonders gut verwendbar. Die Lederindustrie habe bereits Interesse angemeldet, dieses als Gerbstoff einzusetzen. Es sei auch möglich, damit Kunststofffolien herzustellen.
„Nebenbei macht das neue Verfahren das Unternehmen unabhängiger von den stark schwankenden Holz- und Zellstoffpreisen.“ Konkreter äußert sich Essity nicht zu der wirtschaftlichen Perspektive der Anlage.
„Vieles war komplettes Neuland“
Die Planung der Strohanlage war für das Unternehmen eine Reise ins Ungewisse, wie schon der interne Name für das Projekt nahelegt: Columbus. „Vieles war komplettes Neuland“, sagt Wiens, die Fabrik musste konzipiert, Aggregate mussten angepasst werden. Und dann der Transport innerhalb der Anlage. Bei den Tests seien sie überrascht gewesen, wie bockig das Material sei. „Da brauchen sich nur ein paar Halme querzustellen, schon ist die Anlage verstopft.“ Inzwischen laufe alles problemlos.
Und obwohl es in Deutschland wohl mehr als genug Stroh gibt, habe es keinen Markt dafür gegeben, über den ein Unternehmen mal eben ein paar Zehntausend Tonnen hätte bestellen können. Ein Partnerunternehmen musste das Netzwerk erst aufbauen, mit der Vorgabe von Essity, dass der Rohstoff wegen der Umweltbilanz aus der Region kommen soll. Inzwischen gebe es regelmäßig Anfragen von Landwirten, die ihr Stroh loswerden wollten.
Vielleicht am aufwendigsten war die Organisation der Lagerung. Wegen der Brandgefahr wurden 15 bis 20 Meter hohe Löschtürme installiert; im Ernstfall können Kontrolleure wie in einem Videospiel mit dem Joystick heiße Stellen ansteuern und mit Wasserwerfern draufhalten.
Von Sommer an in den Supermarktregalen
Im Sommer soll das erste Toiletten- und Küchenpapier auf Strohbasis in den Supermarktregalen landen. Das Küchenpapier mit einem Strohanteil von fünf Prozent, beim Toilettenpapier soll der Anteil doppelt so hoch sein. Später will das Unternehmen den Prozentsatz erhöhen. „Wir tasten uns da langsam vor“, sagt Wiens. Versuche hätten auch mit einem Strohanteil von 50 Prozent gut funktioniert. Wiens vermutet, dass auch ein noch höherer Anteil möglich wäre; aus wissenschaftlicher Sicht spreche auch nichts dagegen, den Zellstoff für andere Arten von Papier zu verwenden.
Laut Gregor Andreas Geiger, Sprecher des Branchenverbands „Die Papierindustrie“, experimentieren auch andere Papierhersteller mit alternativen Faserstoffen – etwa mit Silphie-Fasern, einer Art Schilfgras, das bisher vor allem zur Energieerzeugung verwendet werde. Das Unternehmen Creapaper verarbeitet Gras beziehungsweise Heu und wirbt damit, die CO2-Emissionen bei der Herstellung des Grasfaserrohstoffs um bis zu 95 Prozent zu reduzieren.
Laut Geiger, der auch Papierhistoriker ist, wurde in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg bereits Stroh zu Papier verarbeitet, die Fabriken seien damals noch berüchtigt gewesen wegen des Gestanks. Essity gehe das jetzt mit einer deutlich besseren Technologie an. Eine Pionierleistung, findet Geiger, auch angesichts der Investition von 40 Millionen Euro für die Anlage.