1. Startseite
  2. Zukunft

Nicht mehr in den Knast fürs Fahren ohne Ticket

Erstellt:

Von: Alina Hanss

Kommentare

Wer aus Geldmangel ohne Fahrschein fährt, muss Strafen mit Geld zahlen, das nicht vorhanden ist.
Wer aus Geldmangel ohne Fahrschein fährt, muss Strafen mit Geld zahlen, das nicht vorhanden ist. © Imago Images

Die Initiative „Freiheitsfonds“ hat schon viele Menschen vor der sogenannten Ersatzfreiheitsstrafe bewahrt. Gründer Arne Semsrott will noch mehr erreichen.

Wer beim Fahren ohne Fahrschein in Bus und Bahn erwischt wird, muss 60 Euro Strafe zahlen und ist dann raus aus der Angelegenheit. Das geht nicht allen so. Im Januar beispielsweise holte die bayerische Polizei eine Frau wegen mehrmaligen Schwarzfahrens von zu Hause ab und brachte sie ins Gefängnis. Ihre Kinder wurden vom Jugendamt aus dem Kindergarten mitgenommen und in eine Einrichtung gebracht. Der Mutter stand eine dreimonatige Haftstrafe bevor.

Jährlich passiert genau dies Tausenden von Menschen. Werden weder Ticketpreis noch weitere Strafzahlungen beglichen, drohen sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen. Laut Statistischem Bundesamt befanden sich am Stichtag im Juni 2021 3424 Menschen wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe in Haft – zehn Prozent aller Gefängnisinsassen. Mehr als 200 solcher Häftlinge sind in den vergangenen zwei Monaten dank der Initiative „Freiheitsfonds“ aus dem Gefängnis entlassen worden. Der „Freiheitsfonds“ sammelt Spenden, um die Betroffenen freizukaufen. Nach Angaben der Initiative sind so 17 701 Hafttage gespart worden. Auch wenn es absurd erscheint: In diesem Fall ist das Freikaufen aus dem Gefängnis legal. Auch die Frau aus Bayern konnte dank des „Freiheitsfonds“ das Gefängnis nach zweieinhalb Wochen verlassen.

Arne Semsrott hat den „Freiheitsfonds“ im Dezember 2021 ins Leben gerufen. Die Betroffenen seien oft ohne festen Wohnsitz, erklärt er. So können sie keine Post empfangen, Mahnungen bleiben ungelesen. Haftbefehle werden erlassen. Trifft die Polizei dann auf der Straße durch Zufall die betroffene Person an, wird diese festgenommen. Im Durchschnitt drohen zwei Monate Gefängnisaufenthalt. „Während sich Besserverdienende die Strafe locker leisten können, stehen arme Menschen vor der Frage, ob sie sich ein besseres Essen oder eine Fahrkarte kaufen sollen“, sagt Semsrott. Das betreffe in manchen Städten auch Empfänger:innen von Hartz IV, wenn dort die Sätze nicht für das Sozialticket ausreichten. Wer also aus Geldmangel ohne Ticket fährt, muss Strafen mit Geld zahlen, das er oder sie nicht hat.

„Das Verrückte am System ist, dass alle Seiten die Haft für sinnlos und entwürdigend halten“, gibt Semsrott zu bedenken. „Selbst die Gefängnisse sind der Meinung, dass viele Verurteilte in Wohneinrichtungen oder in der aufsuchenden Sozialarbeit besser aufgehoben sind.“ Die Haftanstalten seien ursprünglich für Menschen angelegt, die größere und schwerwiegendere Straftaten begangen hätten. Mittlerweile werde die Initiative sogar von den Gefängnissen selbst kontaktiert, um Inhaftierte freizukaufen. Viele Verurteilte verlieren ihren Platz in Unterkünften, Resozialisierungs- oder Drogenprogrammen. Auch über den Verlust des Ausbildungsplatzes oder Probleme in laufenden Asylverfahren berichten Betroffene.

Semsrott vergleicht das Fahren ohne Fahrschein mit einer Tempoüberschreitung im Straßenverkehr oder dem Falschparken im öffentlichen Raum. „Bei beiden Handlungen sprechen wir von einer Ordnungswidrigkeit. Während dabei möglicherweise sogar die Gesundheit anderer gefährdet wird, erleidet beim Fahren ohne Ticket niemand einen Schaden.“ Während diese Ordnungswidrigkeiten eher von Besserverdienenden mit eigenem Auto begangen werden, betrifft das Fahren ohne gültiges Ticket vor allem Arme.

Die aktuelle Rechtslage diskriminiert demnach Menschen in Geldnot. Auch für den Staat ist es eine Minusrechnung. „Pro Tag kostet ein Häftling die deutschen Steuerzahler 170 Euro. Die hohen Ausgaben stehen in keinem Verhältnis zu dem Ursprungsschaden eines nicht bezahlten Tickets von drei bis fünf Euro“, sagt Bernd Maelicke. Der Jurist und Sozialwissenschaftler beschäftigt sich mit dem Thema von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus. Er ist der Ansicht, die strafrechtliche Reaktion sei unsozial und nicht angemessen. Woher kommt dieser Reflex? „In unserer Gesellschaft gibt es eine klare Übereinkunft: Wer eine Straftat begeht, ist immer selbst schuld. Soziale Hintergründe werden dabei ausgeblendet“, sagt Maelicke.

Der Kriminalexperte fordert, dass Ersatzfreiheitsstrafen abgeschafft würden. „Die resozialisierende Wirkung von kurzen Freiheitsstrafen ist äußerst begrenzt, der überwiegende Teil wird im Anschluss erneut straffällig.“ Die sozialen Probleme blieben bestehen, zum Teil verstärkten sie sich durch die „Subkultur“ in den Gefängnissen noch. Gemeinnützige Arbeit könne einen Kompromiss darstellen, aber auch sie löse die Probleme der Betroffenen nicht. „Das Strafrecht ist keine geeignete Strategie zur Problemlösung“, ist sich Maelicke sicher.

Auch der „Freiheitsfonds“ kämpft dafür, dass die Ersatzfreiheitsstrafe aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird. „Wir sind kein soziales, sondern ein politisches Projekt. Unser Ziel ist es nicht, die nächsten Jahre weiter Menschen freizukaufen, sondern politischen Druck ausüben“, erklärt Semsrott. Auch aus Klimaschutzgründen sei dies angebracht. „Mobilität muss klima- und sozialverträglich werden. Sollten zunächst die Preise sinken und dann der ÖPNV für alle kostenlos sein, kann uns das gelingen.“ Der Start der Ampel-Parteien sei ein guter Moment, um den politischen Druck zu erhöhen. Tatsächlich kündigte die Koalition an, das Strafrecht zu untersuchen. Zuletzt erklärte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), dass auch geprüft werden solle, Schwarzfahren zu entkriminalisieren. Dabei solle vor allem die Justiz entlastet werden.

Der Kriminalexperte Maelicke ist da skeptisch. „Politikerinnen und Politiker hatten in der Vergangenheit mit solchen Themen keinen Erfolg, auch wegen des gesellschaftlichen Klimas und der Ausgrenzung von Armen und Straftätern.“ Hier gebe es keine widerspruchsfreie oder einfache Lösung, die alle Menschen überzeuge, sagt Maelicke. „Ich sehe großen Handlungsbedarf. Wir haben es hier mit einem offenkundigen Versagen einer sozialen Strafrechtspflege zu tun.“

Auch interessant

Kommentare