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Zwischen Klinik und Kanzleramt

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Von: Hans-Georg Hofer

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Paul Martini.
Paul Martini. © Privat

Vor 70 Jahren begann Konrad Adenauers lange Kanzlerschaft. Sein Arzt und zuweilen auch Berater in politischen Fragen war Paul Martini, ein herausragender Mediziner.

Vor 70 Jahren, im September 1949, begann mit Konrad Adenauers Kanzlerschaft die erste Legislaturperiode der Bundesrepublik. Ihm stand mit Paul Martini ein Arzt zur Seite, dessen wissenschaftliche und politische Bedeutung einen Rückblick lohnt.

Es war ein Bon(n)mot der frühen Bundesrepublik, das der Kanzler selbst gerne erzählte – und in seinen Erinnerungen zur augenzwinkernden Anekdote ausschmückte: Nach der Bundestagswahl im August 1949 hatten sich führende Politiker der Unionsparteien in Adenauers Haus im Bad Honnefer Stadtteil Rhöndorf zu einer Besprechung eingefunden. Wichtige Entscheidungen standen an. Der Gang der Gespräche führte zu Fragen der Regierungsbildung und schließlich zur Kanzlerschaft, die Adenauer angetragen wurde. Dieser zeigte sich darüber überrascht, prüfte die Gesichter und bemerkte dann: „Wenn die Anwesenden alle dieser Meinung sind, nehme ich an. Ich habe mit Professor Martini, meinem Arzt, gesprochen, ob ich in meinem Alter dieses Amt wenigstens noch für ein Jahr übernehmen könne. Professor Martini hat keine Bedenken. Er meint, auch für zwei Jahre könnte ich das Amt ausführen. Keiner erhob Widerspruch. Damit war die Sache beschlossen.“ Bekanntlich blieb der zu diesem Zeitpunkt 73-jährige Adenauer vierzehn Jahre im Amt, mit einer legendär gewordenen gesundheitlichen Konstitution, die allen, die mit ihm zu tun hatten, wie ein Miraculum erschien.

Ein Jahr zuvor, 1948, hatte Martini selbst vor einer großen Aufgabe gestanden, als er den Vorsitz des ersten Nachkriegskongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin übernahm. Martini, der während der NS-Zeit in Opposition zum Regime gestanden hatte, fand Worte des Schuldbekenntnisses und der Mitverantwortung. Zugleich bemühte er sich um einen zügigen Anschluss an die internationale Forschung.

Das fachpolitische Geschick, das Martini an den Tag legte, ging mit einem hervorragenden Ruf als Arzt und Wissenschaftler einher. Die von ihm zwischen 1932 und 1957 geleitete Medizinische Universitätsklinik in Bonn galt als Zentrum der Methodik therapeutischer Forschung in Deutschland. Nach Medizinstudium und Promotion in München hatte sich Martini an der dortigen Klinik bei dem Internisten Friedrich von Müller habilitiert. 1928 wurde er Chefarzt am katholischen St. Hedwigs-Krankenhaus in Berlin.

Die Berliner Jahre verliefen ausgesprochen produktiv: 1932 veröffentlichte er seine „Methodenlehre der therapeutischen Untersuchung“, ein Meilenstein der klinisch-wissenschaftlichen Medizin. Nicht Einzelerfahrungen oder aufsehenerregende Behandlungserlebnisse begründeten Martini zufolge die Wahl eines bestimmten Medikaments oder therapeutischen Vorgehens, sondern nur rationale, wissenschaftsbasierte Methoden. Zentrale Forderungen wie ein kontrolliertes Vorgehen im Rahmen klinisch-wissenschaftlicher Untersuchungen (klinischer Studien) sind auch heute noch aktuell. Mit dem Paul-Martini-Preis für klinische Pharmakologie erinnert die gleichnamige Stiftung an seine Verdienste.

Die Gründung der Bundesrepublik ließ in Bonn eine unerwartete Konstellation von Politik und Medizin entstehen. Martinis ärztlichen Rat suchten neben Adenauer auch Bundespräsident Theodor Heuß, Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid, Minister, Parlamentarier und Beamte sowie bald auch Unternehmer und Industrielle, deren Herz- und Kreislaufbeschwerden unter dem neuen Begriff der „Managerkrankheit“ firmierten. Martini und Adenauer dürften sich schon seit längerem flüchtig gekannt haben. Zu einer vertrauensvollen Beziehung fanden die beiden in den ersten Nachkriegsjahren, als Martini in das Haus Adenauers gerufen wurde, um dessen schwer erkrankte zweite Frau ärztlich zu betreuen. 1948 schrieb Adenauer an Karl Arnold, den ersten Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen: „Ich kenne Herrn Martini, seine Persönlichkeit und seinen Aufgabenkreis sehr genau. Er ist einer der angesehensten Internisten, die wir haben. [Er] steht absolut auf unserem Boden.“

Über die gesamte Regierungszeit Adenauers genoss Martini das Vertrauen des Kanzlers. Adenauers Kalendarium verzeichnet über 60 Begegnungen, die zwischen 1949 und 1962 mit Martini stattgefunden haben. Dabei ging es nicht nur um gesundheitlichen Rat, sondern zunehmend auch um politische Beratungen im kleinen Kreis. Das Codewort, mit dem der Kliniker ins Kanzleramt gerufen wurde, lautete „Untersuchungsgespräch“.

Zumindest zeitweilig war Martini Adenauers wichtigster Berater in der Wissenschaftspolitik. Bei der 1951 nach schwierigen Verhandlungen erfolgten Fusion der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und des Deutschen Forschungsrats zur Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vermittelte Martini als Vertrauter des Kanzlers. 1957 war Martini eines der Gründungsmitglieder des Wissenschaftsrats, als einziger klinischer Mediziner.

Auch an mehreren Neugründungen wissenschaftlicher Einrichtungen war er zentral oder mittelbar beteiligt. 1959 trat Adenauer an ihn mit der Bitte heran, ihm eine Liste von Professoren aufzustellen, die für die Nachfolge von Theodor Heuß in Frage kämen. Martini war mehr eingeweiht in den Bonner Politikbetrieb, als ihm manchmal lieb war. Später sollte er über Adenauer sagen: „Das Vertrauen, das er meiner Verschwiegenheit entgegenbrachte, war größer als ich es für angemessen hielt.“ Ein Bundestagsmandat, das ihm der Kanzler wiederholt in Aussicht stellte, lehnte Martini ab. Er wusste genau, dass ein offener Wechsel in die Politik mit seinen ärztlichen und wissenschaftlichen Aufgaben unvereinbar war und er seine diskrete Position hinter den Kulissen der Macht hätte aufgeben müssen. Nach Adenauers Rücktritt im Herbst 1963 wurden die Begegnungen seltener. Nur ein Jahr später verstarb Paul Martini in seinem Jagdhaus in der Eifel.

Hans-Georg Hofer ist Professor für Geschichte und Theorie der Medizin an der Universität Münster

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