Wie das Immunsystem zum Allrounder wurde

Die beiden US-Amerikaner David G. Schatz und Frederick W. Alt sind in der Frankfurter Paulskirche mit dem Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis ausgezeichnet worden
Man steckt sich mit etwas an, wird krank und – hoffentlich – wieder gesund. Jeder Mensch erlebt das viele Male im Leben und nimmt es meist als selbstverständlich hin. Doch welche komplexen Vorgänge sich abspielen, wenn Bakterien oder Viren unseren Körper befallen, welche Zellen und Proteine am Werke sind, wenn wir uns krank fühlen oder vielleicht auch gar nichts merken, weil die Erreger rechtzeitig abgefangen wurden – davon haben vermutlich nur wenige eine konkrete Vorstellung. Wie gelingt es unserem Immunsystem, gegen Bedrohungen unterschiedlichster Art zielgerichtet vorzugehen, indem es Antikörper bildet, die wie ein Schlüssel ins Schloss zu den jeweiligen Eindringlingen passen und sie ausschalten? Wie erkennen T-Zellen von Viren befallene Zellen, um sicherzugehen, dass sie die richtigen zerstören?
Als wichtiger Akteur dieses außergewöhnlichen Geschehens hat sich ein Enzym entpuppt, RAG 1/2, das von zwei Genen kodiert wird, sie heißen RAG 1 und RAG 2. Für die Entdeckung dieses Enzyms, seiner genetischen Grundlagen und der von ihm in Gang gesetzten Mechanismen haben die beiden US-amerikanischen Immunologen David G. Schatz und Frederick W. Alt am Dienstag in der Frankfurter Paulskirche den Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis 2023 erhalten. Die international bedeutende Auszeichnung ist mit 120 000 Euro dotiert.
Der diesjährige Nachwuchspreis geht an Leif S. Ludwig von der Berliner Charité und dem Max Dellbrück-Center. Der Arzt und Biochemiker hat ein Verfahren zur Analyse der Abstammung und Entwicklung menschlicher Blutzellen erfunden. Der Nachwuchspreis ist mit 60 000 Euro dotiert.
Ausgangspunkt für die Forschung, die letztlich zur Entdeckung von RAG 1/2 führte, war die Frage, was das Immunsystem dazu befähigt, gegen eine schier unendliche Zahl verschiedener Antigene (Strukturen auf der Oberfläche von Bakterien, Viren oder veränderten Zellen) passgenaue Antikörper und Rezeptoren auf T-Zellen zu bilden. Antikörper bekämpfen Eindringlinge direkt, die zu den weißen Blutkörperchen zählenden T-Zellen vernichten befallene Zellen.
Dass unser Immunsystem in der Lage ist, Milliarden potenzieller Bedrohungen zu eliminieren, ist umso erstaunlicher, da das menschliche Erbgut nur über rund 20 000 Baupläne in Form von Genen für Proteine verfügt. Man habe daraus den Schluss gezogen, dass ein „dynamisches“ Gen diese ungeheure Vielfalt ermöglichen und es „eine Art Schere“ geben müsse, die das Erbgut zerschneide, erklärte David G. Schatz bei einer Präsentation seiner Arbeit in Frankfurt.
Der heute 64 Jahre alte Professor für Molekulare Biophysik und Biochemie an der Yale University und Leiter der Abteilung für Immunbiologie an der Yale School of Medicine hatte Erfolg: Er fand nicht nur ein „Mastergen“, sondern zwei: RAG 1 und RAG 2, wobei die Abkürzung für „Recombination Activating Gene“ steht. Das von ihnen kodierte Enzym RAG 1/2 sei „als molekulare Schere“ in der Lage, die DNA zu zerschneiden, erläutert Schatz. Das freilich allein reicht noch nicht aus, um daraus einen passenden Antikörper (der aus einem Protein besteht) zu basteln. Denn die DNA als Trägerin der Erbinformation muss nicht nur geöffnet, sondern auch anschließend zu einem funktionsfähigen Gen neu zusammengesetzt und geschlossen werden.
Während David G. Schatz die molekulare Schere fand, entdeckte der heute 73-jährige Frederick W. Alt, Professor für Pädiatrie und Direktor des Programms für Zellulare und Molekulare Medizin am Boston Children’s Hospital, die Enzyme, welche die zerschnittene DNA nach der Rekombination wieder reparieren. Die beiden Immunologen hätten „Licht in die zuvor verborgene Entstehung unserer adaptiven Immunität gebracht und damit unser Wissen über die Entwicklung des Immunsystems auf eine neue Stufe gehoben“, würdigte Thomas Boehm, Vorsitzender des Stiftungsrates der Paul-Ehrlich-Stiftung, die Leistung der diesjährigen Preisträger.
Die Menschen verfügen nicht exklusiv über die Fähigkeit, gegen alle möglichen Krankheitserreger vorzugehen. Sämtliche Wirbeltiere sind neben dem angeborenen Immunsystem auch mit einem adaptiven spezifischen Immunsystem ausgestattet. Dessen Anfänge reichen weit in der Evolution zurück. Das erste Antikörper-Gen entstand laut David G. Schatz, der das herausgefunden hat, vor rund 450 Millionen Jahren. Es geht ausgerechnet auf einen Parasiten zurück – auf einen, der die DNA befiel und nach Belieben durch das Genom zu springen begann.
Doch in diesem Fall erwies sich der Schmarotzer als überaus segensreich. Denn es gelang einem unserer sehr frühen Vorfahren mit biochemischen Tricks, das springende Gen an einer bestimmten Stelle zu fixieren und für das Immunsystem nutzbar zu machen: als Gen für eben jenes Enzym, das als molekulare Schere unverzichtbar für passgenaue Abwehrmaßnahmen ist. Eine Revolution in der Evolution. Sie ermöglichte es, so Thomas Boehm, dass sich Zehntausende von Wirbeltierspezies ausbildeten, die sich mit einem derart ausgestatteten Immunsystem an die verschiedensten Umgebungen samt der dort hausenden Bakterien und Viren anpassen konnten.