Widersprüche zwischen Theorie und Realität

Bei der Umsetzung einer guten wissenschaftlichen Praxis hapert es in Deutschland.
Wenn in den vergangenen Jahren in Deutschland in den Medien bestimmte Missstände in der Wissenschaft thematisiert wurden, dann ging es hauptsächlich um die seit 2011 aufgedeckten Plagiatsfälle, die bestimmte bekannte Politiker:innen betrafen. Schon 1997 verfasste aber eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) eingesetzte Kommission eine Denkschrift mit dem Titel „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“. Anlass dafür war ein früherer in der Wissenschaft diskutierter Fall von Fehlverhalten. In dieser Denkschrift sollte die Kommission unter anderem den Ursachen von Unredlichkeit im Wissenschaftssystem nachgehen und geeignete Gegenmaßnahmen empfehlen. Eine aktualisierte Fassung der Denkschrift erschien dann 2013.
In ihr wird die Suche nach Wahrheit als grundlegende Norm von Wissenschaft eingestuft. Dementsprechend nennt die Denkschrift zunächst verschiedene Prinzipien für eine gute wissenschaftliche Praxis (GWP), die dem Ziel der Wahrheitssuche dienen. Hierzu gehören insbesondere die Prinzipien, entsprechend den gängigen Regeln der jeweiligen Wissenschaft zu arbeiten, Forschungsergebnisse angemessen zu dokumentieren, alle Ergebnisse selbst konsequent anzuzweifeln sowie eine strikte Ehrlichkeit im Hinblick auf die Beiträge von Partnern, Konkurrenten und Vorgängern zu wahren. Umgekehrt werden gravierende Verstöße gegen solche Prinzipien wie Plagiate und die Fälschung von Daten als Fehlverhalten gewertet. Zudem macht die Denkschrift auch Vorschläge, wie Studierende, Promovierende und Nachwuchsforscher:innen auf das Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten vorbereitet werden können.
Seit einiger Zeit hängt die Bewilligung neuer Forschungsprojekte durch die DFG von der Verpflichtung einer Einhaltung der einschlägigen Forschungsprinzipien ab und deshalb haben mittlerweile alle Universitäten und Forschungsinstitutionen in Deutschland relativ ähnliche Satzungen mit Richtlinien zur Einhaltung von GWP-Prinzipien verabschiedet. Teilweise werden die DFG-Prinzipien auch noch konkretisiert und ergänzt. Besonders wichtig ist zum Beispiel die Forderung, dass bei einer Deutung von Untersuchungsergebnissen alle für das Forschungsthema relevanten Faktoren berücksichtigt werden, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Sehr unterschiedlich sind dagegen die Maßnahmen zur Vermeidung von Fehlverhalten hinsichtlich der Zahl und der Inhalte von Veranstaltungen, die der Aus- und Fortbildung in Sachen GWP dienen.
Um abzuschätzen, wie erfolgreich die bisherigen Bemühungen um eine gute wissenschaftliche Praxis überhaupt sein können, lohnt es sich, in einem ersten Schritt zu fragen, ob in den GWP-Richtlinien alle relevanten wissenschaftslogischen Prinzipien erfasst sind. Ein erster Mangel der gängigen Richtlinien besteht darin, dass sie nur den Fall der Durchführung von wissenschaftlichen Untersuchungen und der nachfolgenden Veröffentlichungen berücksichtigen.
Dabei müssen auch die Leser:innen solcher Veröffentlichungen bestimmte Prinzipien befolgen. Sie sollten nämlich den jeweils dargestellten Resultaten nur dann Glauben schenken und diese in eigenen Veröffentlichungen als „wahr“ übernehmen, soweit sie deren Geltung selbst überprüft haben. Ein zweiter gravierender Mangel der Richtlinien zeigt sich daran, dass sie die möglichen logischen Probleme in den Argumentationen von Veröffentlichungen nicht thematisieren. Tatsächlich fehlt an den Universitäten bislang eine ausreichende Argumentationsschulung. Deshalb lässt sich nicht ausschließen, dass die jeweils publizierten Resultate auf falschen Schlussfolgerungen zum Beispiel aus den Ergebnissen von Experimenten oder aus empirisch unmittelbar beobachtbaren Sachverhalten beruhen. .
Welche negativen Auswirkungen die partiell unzureichende Argumentationskompetenz und die ungenügende Veröffentlichungskontrolle von Forscher:innen in welchen Wissenschaften haben, lässt sich gegenwärtig nicht ohne vorherige umfangreiche wissenschaftslogische Untersuchungen sagen. Von Interesse wäre es aber schon, einzelne Fallstudien durchzuführen, um abschätzen zu können, mit dem Auftreten welcher Mängel man rechnen muss. Insofern soll hier kurz über die Ergebnisse einer solchen Studie berichtet werden, die am Beispiel eines 2013 erschienenen Buchs zur Geschichte der Jugendbewegung durchgeführt wurde. Dieses Buch hatte ein Rezensent als besonders bemerkenswerte Publikation gelobt und ihm zugleich eine „gründliche Darstellung“ und eine „argumentative Wucht“ bescheinigt. In Wirklichkeit wurden in den untersuchten Teilen des Buchs über 100 wissenschaftslogische Mängel identifiziert; von ihnen lassen sich nachfolgend natürlich nur wenige skizzieren. Dabei werden nur solche Mängel genannt, die in den vorliegenden Buchbesprechungen nicht bemerkt oder jedenfalls nicht kritisiert wurden.
Der Autor des Buchs beschäftigt sich unter anderem mit einer dreibändigen Dokumentation zur Jugendbewegung und behauptet etwa, in den dortigen Kurzbiografien fehle bei 60 Personen eine Angabe ihrer früheren NSDAP-Mitgliedschaft. Abgesehen davon, dass sich die Notwendigkeit einer solchen Angabe bestreiten lässt, gibt es für zwölf der genannten Personen in der Dokumentation gar keine Kurzbiografie. Zudem zieht der Autor ohne Berücksichtigung der Entstehungsbedingungen für die Biografien die unzulässige Schlussfolgerung, das Fehlen dieser Angabe müsse absichtlich erfolgt sein. Leider wurden beide Falschaussagen schon ungeprüft in der nachfolgenden Literatur übernommen. In ähnlicher Weise erhebt der Autor den Vorwurf, in der Biografie eines Jugendbewegten sei dessen antisemitische Einstellung absichtlich nicht erwähnt worden. Dabei verschweigt er aber, dass ihm diese Einstellung nur deshalb bekannt war, weil sie aus einem der abgedruckten Dokumente hervorgeht. Genereller verschweigt der Autor sehr oft relevante Sachverhalte, sodass bestimmte seiner Schlussfolgerungen, Leser:innen als korrekt erscheinen müssen. Das betrifft auch seine Behauptung, die Kürzung eines bestimmten Dokuments verletze die in der Dokumentation genannten Bedingungen. In Wirklichkeit zitiert der Autor aber nur zwei dieser Bedingungen, obwohl die dritte Bedingung die Kürzung legitimiert. Ein anderes Verfahren, bestimmte unzulässige Schlussfolgerungen zu ziehen, beruht darauf, dass der Autor mehrfach nicht korrekt zitiert. In zwei Fällen setzt er sogar ein angebliches Zitat aus zwei an verschiedenen Textstellen formulierten Teiläußerungen zu einer Aussage zusammen und dann behauptet er, diese Aussage stamme von der zitierten Person.
Erwähnt sei schließlich, dass der Autor auch mehrfach gegen eine andere geschichtswissenschaftliche Grundregel verstößt, weil er bestimmte Äußerungen ohne Berücksichtigung des jeweiligen Kontexts missinterpretiert. Insgesamt gesehen legen die Analyseresultate also die Vermutung nahe, dass bei manchen wissenschaftlichen Arbeiten noch eine intensive Selbst- und Fremdkontrolle erforderlich ist, bevor sich das Ziel einer guten wissenschaftlichen Praxis generell erreichen lässt.
Professor Dr. Walther Kindt war 35 Jahre als Logiker und Linguist an der Universität Bielefeld tätig. Sein Forschungsschwerpunkt war zuletzt die Linguistische Rhetorik, in der die sprachliche und die logische Analyse von Argumentationen miteinander verbunden sind.