Warum Fledermäuse durch das Coronavirus nicht krank werden

Der Frankfurter Genomiker Michael Hiller arbeitet mit einer Forschungsgruppe an einem Genom-Atlas der verschiedenen Lebenwesen. Davon könnte auch die Medizin profitieren.
Die jüngere Vergangenheit bescherte der Fledermaus leider eine eher negative PR: Die Flugsäuger gelten als erste Wirte des neuen Coronavirus, das von ihnen vermutlich über einen tierischen Zwischenwirt auf den Menschen übergesprungen ist. Man kann es aber auch anders betrachten: Die Fledermäuse selbst werden durch die winzigen Parasiten, die unserer Spezies so zu schaffen machen, nicht krank. Auch an Krebs leiden sie nur selten. Was ist anders bei ihnen? Was lässt sich daraus ableiten für die menschliche Gesundheit? Welche Rolle spielen die Gene bei der Widerstandskraft der Fledermäuse gegen Infektionskrankheiten und Tumore?
Mit solchen Fragen beschäftigt sich Michael Hiller. Der Genomforscher hat im September eine neue Professur am Loewe-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik in Frankfurt angenommen, das eine Partnereinrichtung der Goethe-Universität Frankfurt und der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung ist. Vorher leitete Hiller eine Forschungsgruppe an den Max-Planck-Instituten für molekulare Zellbiologie und Genetik sowie für Physik komplexer Systeme in Dresden. In Frankfurt liegt der Fokus seiner Arbeit auf der vergleichenden Analyse des Erbguts verschiedener Lebewesen.
Dabei geht es nicht um ein reines Auflisten und Katalogisieren genetischer Ausstattungen, sondern vielmehr darum, herauszufinden, welche Änderungen in der DNA für welche Eigenschaften verantwortlich sind. Eine Forschungsarbeit, die durch die technischen Fortschritte beim Sequenzieren von Genomen in den vergangenen zehn Jahren erst möglich und bezahlbar geworden ist. Ziel sei es, eine Art „Genom-Atlas zu erstellen, der die Artenvielfalt auf genomischer Ebene erfasst“, erklärt Michael Hiller und ergänzt: „Das ist vielleicht vergleichbar mit den Zeiten der großen Entdeckungen und Kartierungen unseres Globus.“ Diese Arbeit spielt sich im Labor und am PC gleichermaßen ab, die Frankfurter Forschungsgruppe will dafür eigens neue Computermethoden entwickeln.
Auch wenn das menschliche Genom bereits 2003 entschlüsselt wurde: Das Wissen darüber, welche Gene bei unserer und anderen Spezies für welche Merkmalsunterschiede zuständig sind, ist bislang allenfalls rudimentär. „Da kratzen wir noch an der Oberfläche“, sagt Hiller. „Es ist ein bisschen vergleichbar mit einer Teileliste für ein Auto, bei der man die Funktion und das Zusammenspiel der einzelnen Teile nicht kennt.“ Das Ganze wird erschwert durch die Tatsache, dass eine Eigenschaft meist von einer Vielzahl unterschiedlicher Abschnitte auf der Erbsubstanz DNA kodiert wird. Allein für ein vergleichsweise wenig komplexes Merkmal wie die Körpergröße kenne man mittlerweile mehr als 100 Änderungen im Erbgut, die eine Rolle spielen, sagt der Genomiker.
Die Erbinformation jedes Lebewesens besteht aus einer Abfolge von vier Basen auf der DNA: Adenin (A), Thymin (T), Cytosin (C) und Guanin (G). Das ungefähr 20 000 Gene umfassende Erbgut des Menschen etwa enthält 3.2 Milliarden dieser Buchstaben. Das sind so viele wie man sie in etwa 200 Telefonbüchern finden würde, veranschaulicht Hiller.
Wie diese Buchstaben angeordnet sind, gibt vor, welche Farbe Haut, Augen oder Haare haben, wie Nase und Mund geformt sind oder für welche Krankheiten man anfällig ist (ob man sie tatsächlich bekommt, hängt aber häufig auch von Faktoren wie Umwelt und Ernährung ab). Zudem enthält nicht jeder Abschnitt auf der DNA solche wichtigen Informationen, als wahrscheinlich gilt, dass ein Großteil gar keine Aufgabe erfüllt.
Den Frankfurter Forscherinnen und Forschern geht es darum, die Buchstabenfolge von möglichst vielen Lebewesen zu ermitteln. Die Fledermäuse stellent in diesem vielfältigen Reigen eine besonders interessante Gruppe dar. Dass sie als Säugetiere fliegen können, ist außergewöhnlich und könnte eine Ursache für ihre Unempfindlichkeit gegenüber vielen Viren sein. Die Flugfähigkeit ist für die Säuger mit hoher Muskelaktivität verbunden, das könnte sich auf den Stoffwechsel und das Immunsystem auswirken.
Fakt ist: „Fledermäuse können viele Viren tolerieren, ohne selbst krank zu werden“, sagt Hiller. „Sie bilden ein Virenreservoir, in dem sich Krankheitserreger sammeln und vermehren, die für Menschen und andere Tiere tödlich sein können.“ Ihr Immunsystem bekämpfe die Eindringlinge zwar und halte sie in Schach -– allerdings ohne dabei zu heftig zu reagieren. Ein beneidenswerter Mechanismus: Bei an Covid-19 erkrankten Menschen etwa kann eine entgleiste Abwehr das Gewebe schwer schädigen und so zu lebensbedrohlichen Verläufen führen. „Fledermäuse sind in der Lage, ihr Immunsystem nach einer Infektion auch wieder herunterzufahren und Entzündungsreaktionen zu kontrollieren“, erläutert der Frankfurter Wissenschaftler. Irgendwo im Genom der Tiere müssen diese bemerkenswerten Fähigkeiten verschlüsselt sein. Zusammen mit einem internationalen Forscherteam hat Hiller herausgefunden, dass bei der Fledermaus im Laufe der Evolution Gene, die eine Immunantwort steigern und somit das Risiko einer Überreaktion erhöhenbergen, verloren gegangen sind. Auf der andere Seite haben sich Gene mit antiviraler Funktion dupliziert.

Doch die Virentoleranz ist bei weitem nicht das Einzige, was die Fledermäuse für die Forschung so interessant macht: Sie erkranken auch nur sehr selten an Krebs und werden, bezogen auf Körpergröße und -gewicht, extrem alt, sagt Hiller. Im Schnitt erreichten sie ein dreimal so hohes Lebensalter wie andere Säugetiere mit vergleichbarem Gewicht; auf einen Menschen übertragen würde dies ein Alter von mehr 200 Jahren bedeuten. „Insgesamt erreichen 19 Säugetiere ein relativ zum Körpergewicht ein höheres Alter als der Mensch, 18 davon sind Fledermäuse.“ Rekordhalter sei die Große Bartfledermaus, die es mit einem Gewicht von nur zehn bis zwanzig Gramm auf ein Alter von bis zu 41 Jahren bringen könne – das übertrifft die Lebenserwartung einer Hausmaus mit ähnlichem Gewicht um das Zehn- bis Zwanzigfache. Fledermäuse von der Art Großes Mausohr schaffen es immerhin auf bis zu 37 Jahre.
Michael Hiller ist überzeugt, dass in Zukunft auch die Humanmedizin von tiefen Erkenntnissen über die besonderen Eigenschaften von Tieren profitieren kann. „Da diese Merkmale und Fähigkeiten im Genom verschlüsselt sind, hoffe ich, dass die Genomforschung dazu beitragen kann, die molekularen Grundlagen besser zu verstehen.“
Erkenntnis müsse dem Anwenden vorausgehen, zitiert Hiller den Physiker Max Planck. Um beim Beispiel der Fledermäuse zu bleiben: Wisse man erst einmal, welche Gene für ihre Virentoleranz und das hohe Alter sorgen, so könne man im nächsten Schritt nach Wegen suchen, diese Gene pharmakologisch oder mit anderen Mitteln im Menschen zu modulieren. Aber noch ist das natürlich Zukunftsmusik.