Blutlinie verliert an Geltungsanspruch

Die Sozialwissenschaftlerin Christina von Braun hat verwandschaftliche Verhältnisse und ihre Historie untersucht.
Woher wissen wir, wer zu uns gehört? Dieser grundlegenden Frage ist die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun in ihrem 537-seitigen Werk „Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte“ nachgegangen. Sie kommt darin zu der zentralen These, dass das in der westlichen Welt lange Zeit anerkannte Konzept der Blutsverwandtschaft keineswegs universell gültig ist; und es ist auch nicht so weit verbreitet, wie man leichthin denken könnte.
In anderen Zeiten und anderen Kulturen „spielt die soziale Verantwortung im Zusammenleben“, etwa die gemeinsame Bearbeitung des Bodens oder das Teilen des Herdes, eine viel wichtigere Rolle für das Miteinander als die genetische Abstammung, betont Christina von Braun im Gespräch. Geteilt würden nicht nur die Nahrung oder die Behausung, sondern auch Erinnerungen, Trauer, Freude und Rituale.
Auch miteinander auf die Jagd zu gehen, kann Grundlage für ein Zusammengehörigkeitsgefühl sein – ebenso wie Gefahren gemeinsam zu bestehen, worauf beispielsweise die indigenen Inuit, die im Norden Kanadas und auf Grönland leben, großen Wert legen. „Auf Madagaskar ist es sogar ein Tabu, den Vater oder die Mutter des Neugeborenen namentlich zu benennen, denn das ganze Dorf bildet die soziale Gemeinschaft“, sagt die Wissenschaftlerin. All das sind Beispiele dafür, dass Verwandtschaft über die soziale Verantwortung definiert wird.
Nationalsozialisten propagierten das Konzept der Blutsverwandtschaft
In der Regel verbergen sich hinter den Verwandtschaftverhältnissen Bestrebungen, ökonomische oder kulturell produzierte Verhältnisse zu naturalisieren und damit stärker zu zementieren. Insbesondere die christliche und jüdische Religion habe einen prägenden Einfluss entfaltet, indem sie soziale Hierarchien durch Blutslinien begründete, sagt Christina von Braun.
Galt in der christlichen Kultur die Vaterlinie, die geistige Vaterschaft, als Ordnungsprinzip, begründet im Judentum die Abstammung von der Mutter die Zugehörigkeit zu Religion und Familie: „Jude ist, wer eine Jüdin zur Mutter hat.“ Während sich die Mutterschaft in der Menschheitsgeschichte in der Regel problemlos nachweisen lässt, beruhte die Vaterschaft bis weit hinein ins 20. Jahrhundert auf genealogischen Vermutungen – aus diesem Grund entstand Braun zufolge ein theologisches Konzept des Blutes. Unterschieden wurde dabei zwischen dem minderwertigen Blut der Normalsterblichen und einem höheren Blut, das für eine geistige Wirklichkeit steht. Das schlug sich auch in den sakralen Blutslinien der Könige nieder, die durch die christliche Spiritualität aufgewertet wurden.
Patchworkfamilien und homosexuelle Elternschaft gehören zur Gesellschaft
Vor allem Schriftnachweise, die die Vaterschaft dokumentieren sollten, dienten dabei lange Zeit als Grundlage, um Eigentum und insbesondere Grundbesitz zu vererben. Christina von Braun betont jedoch, „dass die väterliche Blutslinie eine Fiktion blieb. Das patrilineare ‚Blut‘ war nichts anders als rote Tinte.“
Mit dem Schlagwort „Blaues Blut“ verteidigte der Adel in der Feudalgesellschaft lange sehr erfolgreich seine Ansprüche auf Privilegien. Nach der Entmachtung von Aristokratie und Monarchie in Europa um 1800 erfüllte das Kapital eine ähnliche Funktion wie die Blutsbande.
Da alle Kinder der wohlhabenden Schichten im Europa des 19. Jahrhundertes erbberechtigt waren, suchte man nach Wegen, um den Grundbesitz, das Kapital und die Produktionsmittel möglichst in der Familie zu halten. Zu diesem Zweck wurde das altehrwürdige Inzestverbot aufgehoben, um die Heirat von Verwandten zu ermöglichen. Die Heirat von Cousins ersten bis fünften Grades, die zuvor die katholische Kirche verboten hatte, galten im Bürgertum, aber auch beim Adel und in der Bauernschaft von nun an als legitim. „Kapital und Blut floss durch dieselben Adern“, formuliert es der Sozialhistoriker David Sabean in „Kinship in Europe“.
Selbst die Nationalsozialisten propagierten das Konzept der Blutsverwandtschaft und dehnten den Begriff sogar auf eine kollektive Verwandtschaft aus – auf das Konstrukt der Rassengemeinschaft. Dabei ist der Vater in seiner übermächtigen, geistigen Rolle schon kurz nach der Französischen Revolution entthront und auf die reine Biologie im Zeugungsakt zurechtgestutzt worden. Nachdem im Jahr 1875 erstmals die Verschmelzung von Sperma und Eikern beobachtet werden konnte, brachte dieser rein biologische Zeugungsakt auch die patriarchale Idee einer männlich-dominanten Blutslinie ins Wanken.
Patrilinearität, aber auch die Matrilinearität verlieren als Blutslinien heute zunehmend ihren Alleingeltungsanspruch. Nicht zuletzt durch die Reproduktionsmedizin entstehen derzeit neue Formen sozialer Verwandtschaften, wodurch die genetische Abstammung in ihrer Bedeutsamkeit für die eigene Identität weiter zurückgedrängt wird. Patchworkfamilien und homosexuelle Elternschaft gehören zu einer Gesellschaft, die stärker als früher von einer intentionalen Elternschaft geprägt ist: dem Wunsch, Vater oder Mutter zu sein – unabhängig von der realen Elternschaft.