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Unordnung steckt an

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© dpa

Müll, Schmierereien, kaputte Fenster – Vor allem in großen Städten gehört Unsauberkeit zum Alltag. Das menschengemachte Chaos lässt aber nicht nur die Straßen hässlich aussehen, es führt auch zum Verfall sozialer Normen.

Von Margit Mertens

Ich lege großen Wert darauf, dass die Bootshalle ordentlich ist und sich darin nur Dinge befinden, die dorthin hingehören“, betont der Bootswart des Bonner Ruder-Vereins. Nach dem Motto „Das kann man bestimmt noch mal gebrauchen“ haben anonyme Mitglieder schon die verschiedensten Dinge in der Halle gelagert: einen kompletten Satz Winterreifen, ausrangierte Plastik-Gartenmöbel mit Polster-Auflagen, ein Hochbett, eine Kiste mit Porzellantellern mit unterschiedlichem Dekor, Sofakissen und diverse Fitnessgeräte, die wahrscheinlich jahrelang ungenutzt private Keller verstopften. „Wenn man das einmal zulässt, kommt sofort alles mögliche Zeug dazu“, weiß der Bootswart.

Seine Erfahrung entspricht haargenau der „Broken-windows“-Theorie. Dieses Schlagwort prägten 1982 der US-amerikanische Politologe James Wilson und der Kriminologe George Kelling. Es besagt, dass ein zerbrochenes Fenster in einem leerstehenden Haus rasch weitere Zerstörung nach sich zieht oder dass Müll zu noch mehr Müll und Unordnung zu Chaos führt.

Ein nicht repariertes zerbrochenes Fenster sei, so Wilson und Kelling, ein Signal dafür, dass sich niemand kümmere. So entstehe der Eindruck, dass man weitere Fenster durchaus ungestraft kaputt machen könne. Würden solche Missstände nicht umgehend beseitigt, käme es zur Verwahrlosung und zum Niedergang ganzer Straßenzüge und Stadtviertel.

Unordnung zieht Kriminalität an

Diese deutlichen Zeichen fehlender sozialer Kontrolle zögen schließlich Kriminalität an. Bürger sind in der Folge verängstigt, ziehen sich zurück, lassen sich aus ihrer Wohngegend vertreiben. So, schlussfolgern James Wilson und George Kelling, geht schließlich eine bislang sozial stabile Nachbarschaft verloren und damit irgendwann auch die Kontrolle über sie.

Dieser Effekt des zerbrochenen Fensters ist nicht unumstritten. Kritiker bemängeln ausreichende empirische Belege. Doch gerade in jüngster Zeit veröffentlichen Forscher immer mehr Untersuchungen, die die Theorie untermauern. Ausgehend von der These, dass bereits harmlose Zeichen der Verwahrlosung Menschen glauben lassen, die sozialen Normen seien außer Kraft gesetzt, untersuchte der Wirtschaftspsychologe Michael Kurschilgen vom Bonner Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeingütern den Einfluss der Erwartungshaltung auf das eigene Verhalten.

Er ließ rund 60 Versuchspersonen in London und Bonn jeweils in Vierergruppen an sogenannten Gemeinwohlspielen teilnehmen. Jede Gruppe bekam ein Startkapital von 20 Talern. Laut Spielregeln wurden die Teilnehmer belohnt, wenn sie Geld in einem gemeinsamen Topf zusammenlegten, am Ende alle profitierten und jeder 32 Taler besaß. Verhielt sich ein Mitspieler egoistisch, konnte er 44 Taler gewinnen, während die anderen Verluste einfuhren. „Wer andere für Egoisten hält, handelt auch selbst meist egoistisch“, fasste Kurschilgen die Mitte April präsentierten Ergebnisse zusammen. Die Erwartung an die Mitspieler bestimmte stark das eigene kooperative oder eigennützige Verhalten.

Überraschend war, dass in Bonn die große Mehrheit (82 Prozent) in die Gruppenkasse einzahlte, während es in London nicht einmal jeder Zweite war (43 Prozent). „Die Londoner sind anscheinend wesentlich misstrauischer“, kommentiert Kurschilgen. Mit weitreichenden Folgen. „Als wir in einer zweiten Runde die Bonner vorab über das Londoner Ergebnis informierten, sank auch dort die Kooperation drastisch.“ Kurschilgens Warnung an die Politik: „Wenn sie nicht dafür sorgt, dass zerbrochene Fenster – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – zügig repariert werden, könnte ein Teufelskreis beginnen.“

Im Gegensatz dazu könne ein positives soziales Vorbild das Gegenteil bewirken. „Bei Vorschriften, die von der Kooperationsbereitschaft der Bürger abhängen, wie etwa zur Mülltrennung oder dem Wassersparen, könnte eine PR-Kampagne nützlich sein, die die generelle Zusammenarbeit in der Bevölkerung fördert“, schließt der Wissenschaftler.

Welche Folgen die offensichtliche Verletzung sozialer Normen nach sich zieht, hat das Team um Siegwart Lindenberg, Sozialforscher an der Universität Groningen, in verschiedenen Experimenten genauer untersucht. An einem Fahrradparkplatz in einer Einkaufsstraße entfernten die Forscher alle Papierkörbe und klemmten an jeden Fahrradlenker einen Werbegruß eines nicht existierenden Sportgeschäftes.

Verbote werden ignoriert

Im ersten Durchlauf war eine (saubere) Fassade mit einem Graffiti-Verbotsschild versehen worden, im zweiten war dieselbe Wand mit Graffiti übersät. Für beide Szenarien mit jeweils 77 Versuchspersonen hielten die Forscher fest, ob diese den Werbezettel einsteckten, um ihn später zu entsorgen, oder ob sie ihn achtlos fallenließen und so die Norm verletzten, keinen Müll auf die Straße zu werfen.

Das Ergebnis: War die Wand mit Graffiti beschmiert, warfen 69 Prozent der Fahrradbesitzer den Zettel auf den Boden, im Fall der sauberen Wand waren es nur 33 Prozent. In einem weiteren Versuch versperrte Lindenberg den Zugang zu einem Parkplatz mit einem mobilen Gitter, das nur einen schmalen Durchschlupf ließ, und hängte daneben die Schilder „Durchgang verboten“ und „Fahrräder anschließen verboten“. Die Alternative für die 93 Probanden, zu ihrem Auto zu gelangen, war ein 200 Meter entfernter Nebeneingang. Waren nun Fahrräder an die Absperrung gekettet, quetschten sich 82 Prozent der Menschen trotz Verbot durch die Lücke. Waren keine Fahrräder vorhanden, taten dies nur 27 Prozent.

Ein weiteres Beispiel: Auf einem Supermarkt-Parkplatz brachten die Forscher ein gut sichtbares Schild mit der Aufschrift „Bitte Einkaufswagen zurückbringen“ an und klemmten wieder einen Werbeflyer unter den Scheibenwischer. Standen trotz der Bitte Einkaufswagen auf dem Platz herum, warf über die Hälfte der Autobesitzer den Zettel einfach auf den Boden, ohne Caddies war es weniger als ein Drittel. Sogar eine akustische Normverletzung durch verbotenes Zünden von Feuerwerkskrachern ließ die Zahl der Leute, die die Reklame auf die Straße warfen, in die Höhe schnellen.

Nun interessierte die niederländischen Wissenschaftler, ob Unordnung auch zu kriminellem Verhalten verleitet. Dafür steckten sie einen Umschlag mit einem im Sichtfenster deutlich zu sehenden Fünf-Euro-Schein zur Hälfte in den Schlitz eines Briefkastens. Passanten konnten den Umschlag also einfach mitgehen lassen. War der Kasten mit Graffiti besprüht oder lag Müll herum, klaute jeder Vierte den Umschlag, in ordentlicher Umgebung nur jeder Achte. „Besonders bedeutsam ist dabei, dass der Effekt über die Grenzen von Normen hinweggeht, also von Graffiti über Müll bis hin zu kriminellem Verhalten gehen kann“, kommentiert der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer die Forschungsergebnisse. „Zu beachten ist weiterhin, dass die beobachteten Effektstärken sehr groß sind und es zwischen 50 bis 200 Prozent mehr Normverletzungen geben kann.“

Im positiven Sinn wiederum fördern sogar saubere Gerüche soziales Handeln. Das konnten US-Psychologen um Katie Liljenquist aus Brigham zeigen. Sie setzten ihre Probanden entweder in einen leicht mit Zitronenspray bedufteten oder neutral riechenden Raum und ließen sie ein Gemeinwohlspiel spielen und einen Spendenaufruf beurteilen. In beiden Fällen steigerte der „saubere“ Zitronenduft sowohl Fairness als auch Spendenbereitschaft.

Selbst Vorurteile nehmen zu

Wie weit dagegen die Folgen von Müll und Unordnung reichen, zeigen Lindenbergs jüngste Versuche, die er Anfang April in der Fachzeitschrift „Science“ veröffentlichte. Wie er zeigen konnte, fördern sie selbst Vorurteile und Diskriminierung. Dafür begaben sich Lindenberg und sein Kollege Diederik Stapel auf den Bahnsteig eines Bahnhofs, der aufgrund eines wochenlangen Streiks des Reinigungspersonals völlig vermüllt war.

Sie baten im ersten Teil ihrer Studie 40 zufällig ausgewählte, hellhäutige Männer und Frauen, einen Fragebogen über Muslime und Homosexuelle auszufüllen. Außerdem wurden sie aufgefordert, auf einem von fünf Stühlen Platz zu nehmen, ein sechster war entweder von einem schwarzen oder von einem weißen Helfer der Forscher besetzt.

Die Auswertung der Fragebögen zeigte, dass vor der unschönen Kulisse die Probanden durchaus mehr zu Vorurteilen neigten und im Schnitt von der dunkelhäutigen Person drei, von der weißen nur zwei Stühle Abstand hielten. Anschließend wiederholten die Sozialpsychologen nach dem Ende des Streiks das Experiment auf dem inzwischen aufgeräumten Bahngleis mit 40 weiteren Freiwilligen. Das Resultat: Vorurteile schlugen sich deutlich weniger in den Antworten nieder und zu dem schwarzen Mitarbeiter blieben viele auch nicht mehr auf so große Distanz.

Die Forscher schlussfolgern aus ihren Untersuchungen: Wer von Unordnung und Chaos umgeben ist, versucht offenbar unbewusst, selbst Ordnung und Struktur wiederzufinden. Dabei würden Vorurteile und Schubladendenken „wie ein mentales Reinigungsmittel wirken“. „Unordnung einfach so zum Spaß ist nicht in Ordnung“, folgert Spitzer. Sie wirke sich auf die Welt negativ aus, indem sie Menschen verleite, soziale Normen zu überschreiten. Ohne diese aber würde unsere Gemeinschaft einfach nicht funktionieren.

Respekt vor schönen Räumen

Vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse zum „Broken-windows“-Effekt könne man „die Sache allerdings auch umdrehen“. Spitzer nennt das Beispiel des Direktors einer privaten Schule, der viel in die schicke Ausstattung der Räume investiert habe. „Es sieht dort aus wie in einer Bank oder einer noblen Firma. Entsprechend hat er mit Schmierereien und Sachbeschädigung praktisch keine Sorgen. Es traut sich einfach niemand, die schönen Räume zu zerstören.“

Prosoziales Verhalten, die Absicht also, einem anderen Menschen etwas Gutes zu tun, entstehe nicht zuletzt durch die Beobachtung von eben prosozialem Verhalten. Spitzer: „Von Bedeutung ist dabei vor allem die Frage: Was glauben Menschen, was andere Menschen tun?“

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