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Therapien mit fatalen Folgen

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Von: Pamela Dörhöfer

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ARCHIV - Eine Packung Contergan liegt am 11...
Verhängnisvolle Tablette: Eine Packung Contergan ist im Haus der Geschichte in Bonn zu sehen. © ap-photo/Hermann J. Knippertz

Eckart Roloff und Karin Henke-Wendt arbeiten in ihrem Buch „Geschädigt statt geheilt“ deutsche Medizinskandale der vergangenen Jahrzehnte auf.

Sie nahmen die Tabletten, um besser schlafen zu können. Ohne Bedenken und ahnungslos, was das für ihr ungeborenes Kind bedeuten würde. Warum sollten sie auch ein schlechtes Gefühl haben? Niemand hatte die Frauen gewarnt, das Medikament war rezeptfrei erhältlich, es schien völlig harmlos zu sein. Und der Hersteller hatte ja auch die „völlige Ungiftigkeit und Gefahrlosigkeit“ betont – obwohl bereits im Dezember 1956 das Kind eines Mitarbeiters der Herstellerfirma ohne Ohren auf die Welt gekommen war. Die Mutter hatte das neue Mittel mit Namen Contergan, das es damals noch nicht in den Apotheken zu kaufen gab, während der Schwangerschaft eingenommen. Ab dem 1. Oktober 1957 war es dann in Deutschland und vielen anderen Ländern auf dem Markt. Contergan bescherte dem Pharmaunternehmen Grünenthal traumhafte Umsätze. Doch dann mehrten sich Berichte über Fehlbildungen bei Neugeborenen; der Begriff „Contergan-Kinder“ wird später in den Sprachgebrauch übergehen. Sachverständige gehen heute allein für die Bundesrepublik von 4000 bis 5000 Opfern aus, häufig sind bei ihnen Arme oder Beine verkümmert. Ende 1961 begann Ermittlungen gegen Grünenthal, 1967 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage. Doch das Verfahren wurde eingestellt, Grünenthal erklärte sich bereit, den Opfern 100 Millionen Mark (und später weitere 50 Millionen Euro) zu zahlen. Der Kampf um „Entschädigung“ – ein unpassendes Wort angesichts des unermesslichen Leids – dauert Jahrzehnte an, bis in die Gegenwart.

Contergan war einer der aufsehenerregendsten Medizinskandale in der Geschichte der Bundesrepublik. Einer, der auch 60 Jahre später nicht vergessen ist und nichts von seinem Grauen verloren hat. Ein Einzelfall ist er allerdings nicht. Der Wissenschaftsjournalist Eckart Roloff und die Biologin Karin Henke-Wendt haben in ihrem Buch „Geschädigt statt geheilt“ die großen deutschen Medizin- und Pharmaskandale auf mehr als 250 Seiten zusammengetragen. 16 haben sie seit 1930 ermittelt, jedem wird ein eigenes umfangreiches Kapitel gewidmet: Gestreckte Krebsmittel, gefälschte Brustimplantate und verseuchte Blutkonserven gehören ebenso dazu wie mordendes Pflegepersonal oder der Fall des zu Unrecht in der Psychiatrie eingesperrten Gustl Mollath. Bewusst ausgespart wurde die Zeit des Nationalsozialismus. Die Monströsität der damaligen Menschenversuche und Massenmorde hätte den Rahmen gesprengt.

Oft ziehen sich Aufklärung und Verfahren Jahre hin

Wer sich in das Buch vertieft, kann ahnen, wie aufwendig die Recherche dafür gewesen sein muss. Die Autoren liefern zu jedem einzelnen Skandal eine detaillierte Chronologie der Ereignisse. Sie liefern dabei nicht nur nüchterne Fakten, sondern analysieren die Vorgänge, zeigen Versagen, Versäumnisse und Vertuschungen auf – und arbeiten viele Parallelen heraus, so unterschiedlich die Vorfälle auf den ersten Blick auch gelagert scheinen.

Fast überall sind ähnliche Prozesse abgelaufen: Zunächst wird etwas – ein Medikament, eine Methode, ein Arzt – für gut befunden, dann nicht so genau hingeschaut. Es kommt zu Auffälligkeiten und weiteren Verdachtsmomenten, die ersten Berichte in der Presse erscheinen (die Medien spielen bei fast jedem Skandal eine zentrale Rolle, leider nicht immer nur eine gute). Öffentliche Empörung stellt sich ein. Die Betroffenen zeigen keine Einsicht, streiten ihr Verschulden ab, doch irgendwann sind die Fakten nicht mehr leugnen. Es kommt zu einem Prozess und dann meist zu Zahlungen an die Opfer. Eine weitere traurige Konstante: Oft ziehen sich Aufklärung und Verfahren über einen langen Zeitraum hin, ohnehin schwer gebeutelte Menschen müssen zäh um finanzielle Entschädigungen ringen.

Und auch das ist auffällig: Nie sind es schicksalhafte Umstände, die zu einem Skandal führen. Immer ist ein schweres Fehlverhalten der Ausgangspunkt – sei es aus Gewinnstreben, aus übertriebenem Ehrgeiz Einzelner, sei es aus Schlamperei. Oder, wie häufig, aus einer Mischung von allem.

Schludrigkeit war zum Beispiel die Ursache für das Lübecker Impfunglück von 1930, bei dem 70 Säuglinge starben, weil sie einen verunreinigten Tuberkulose-Impfstoff erhielten; die Stämme waren verwechselt worden. Bei Contergan und Duogynon führten mangelhafte Prüfungen zur Katastrophe. Duogynon war von der Firma Schering Ende der 1960er Jahre als Schwangerschaftstest und Verhütungsmittel auf den Markt gebracht worden, wie bei Contergan soll es durch die Einnahme zu schweren Fehlbildungen gekommen sein. Bis heute ist der Fall nicht vollständig aufgeklärt.

Tausende Bluter starben durch verseuchte Konserven

Die wohl schlimmsten Auswirkungen hatte mangelnde Sorgfalt beim Skandal um Blutpräparate in den 1980er Jahren. Große Mengen der Konserven waren mit Aidserregern kontaminiert, weil Risikogruppen nicht als Spender ausgeschlossen waren. Massenhaft erhielten Menschen mit der Bluterkrankheit und Patienten, die eine Bluttransfusion benötigten, die verseuchten Präparate. Mindestens jeder dritte Bluter in Deutschland hatte sich dadurch mit dem HI-Virus infiziert. Die Behandlungsmöglichkeiten waren damals noch schlecht, Tausende Bluter starben in der Folge an Aids.

Verantwortungslose Nachlässigkeit und das Versagen von Kontrollinstanzen ist fast bei jedem Medizinskandal im Spiel. Bei einigen jedoch steht vor allem die persönliche Ruhmsucht vermeintlicher Koryphäen im Vordergrund (gegen die dann kaum einer aufbegehren mag): So schädigte ein Chefarzt am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Anfang der 1990er Jahre Krebspatienten mit einer von ihm entwickelten Strahlentherapie schwer, weil er auf eine stark erhöhte Dosis setzte. An der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Frankfurt wollte ein Professor um die Jahrtausendwende eine Erfolgsgeschichte mit einem damals neuen High-Tech-Verfahren schreiben: Er setzte 5000 Patienten mit Hilfe des Operationsroboters Robodoc eine Hüftgelenksprothese ein. Dass Robodoc sich noch im Experimentalstadium befand und in den USA nicht zugelassen war, enthielt man den Patienten vor. 800 von ihnen sollen seit der Operation schwer gehbehindert sein.

Einem anderen Starchirurg, einst hochgeehrter Direktor der Klinik für Allgemein- und Transplantationschirurgie am Universitätsklinikum Essen, ging es vor allem um den schnöden Mammon: Er hatte für Lebertransplantationen Geld verlangt und wurde 2010 zu drei Jahren Haft verurteilt.

Unter all den schrecklichen Geschichten im Buch nimmt sich der Fall des Hochstaplers Gert Postel regelrecht harmlos aus. In der Psychiatrie konnte der Postbote als falscher Dr. Dr. in der Position als Oberarzt reüssieren, Medikamente verordnen und Gutachten schreiben. Kaum zu glauben - dieser Gedanke drängt sich auf, wenn man die akribischen Schilderungen des Autorenduos liest. Auch in diesem Fall hat es im Umfeld an der gebotenen Aufmerksamkeit gemangelt, eine erschreckende Oberflächlichkeit wird offenbar: Mit bewusst unverständlicher Sprache habe er beim Bewerbungsgespräch im sächsischen Sozialministerium überzeugen können, erklärte Postel später. Immerhin: Patienten sollen durch die Therapien des Briefträgers nicht zu Schaden gekommen sein.

Eine Ausnahme. Insgesamt ist „Geschädigt statt geheilt“ eine erschütternde Lektüre. Sie mahnt, sich als Patient nicht blenden zu lassen vom weißen Kittel, stattdessen mitzudenken und zu hinterfragen. Lehren wurden aus den beschriebenen Medizinskandalen manchmal gezogen, aber nicht immer. Und das stetige Wiederauftreten solcher Vorfälle über die Jahrzehnte hinweg legt nahe, dass sich immer wieder neue Lücken im System auftun, die einen Skandal erst ermöglichen. So steht so befürchten, dass sich in einigen Jahren Stoff für eine erweiterte Fassung anbietet.

Das Buch

Eckart Roloff, Karin Henke-Wendt
Geschädigt statt geheilt
S. Hirzel, 256 Seiten, 22 Euro

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