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Schüler erkunden die Suren des Koran

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Das Schülerlabor Geisteswissenschaften ist ein bundesweit einmaliges Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Von JEANNETTE GODDAR

Die Erwartungen sind hoch gesteckt. Dimitrios hofft angesichts all der Klischees über ein Buch, auf das sich auch Terroristen berufen, auf eine ausgewogene Sicht. Jan ist über die Suren auf dem Körper der Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali in Theo van Goghs Film "Submission" auf den Koran aufmerksam geworden und wüsste gern, was dort genau stand. Robert ist noch vorsichtig: "Ich hoffe, hier überhaupt eine Sicht auf den Koran zu bekommen. Wenn ich ehrlich bin: Ich weiß gar nichts über ihn."

Was auch immer sie sich wünschen: Einen halben Tag haben die zehn Schüler Zeit, sich dem Koran anzunähern - ohne dass ein Erklärstück "Islam für Anfänger" auf dem Programm steht. Stattdessen sollen die Religionsschüler einer zwölften Klasse hier selbstständig wissenschaftlich arbeiten. Sie sind zu Gast im Schülerlabor Geisteswissenschaften, einem bundesweit einmaligen Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

In den Naturwissenschaften bringen längst mehr als 300 Praxislabore bundesweit Schüler ans Experimentieren. Immer in der Hoffnung, Nachwuchs für die unterbesetzten Fächer zu gewinnen, führen Praktiker aus der Wissenschaft die Schüler an Gentechnik oder Meeresforschung, Luft- und Raumfahrt oder die Robotik heran. Die Religionsschüler waren ein Jahr lang alle zwei Wochen im PhysikLab der FU Berlin. Unter einem Schülerlabor für Geisteswissenschaften können sie sich aber nichts vorstellen. "Wie forscht denn ein Sprachwissenschaftler?", fragt Robert, noch unsicher, was er von dem Exkurs halten soll.

Die Initiatorin des einmaligen Programms Yvonne Pauly ist promovierte Philologin und erklärt das jede Woche: "Natürlich knallt und zischt es bei uns nicht. Wir forschen mit Texten, anhand von Schriften, editieren oder kommentieren. Wie das geht, werdet ihr gleich erleben. Im Prinzip wollen wir euch genau wie in den Naturwissenschaften das Handwerkszeug unserer Arbeit vermitteln."

Und das geht auf ganz verschiedene Weise: Vergangenes Jahr stand ein Projekt zum "Deutschen Wörterbuch" auf dem Programm, in dem die Schüler einen Eindruck bekamen, wie Lexikonartikel entstehen. Dieses Jahr bringen Pauly und ihre Kollegen den Koran nahe, genauer gesagt, die Arbeit des "Corpus Coranicum". Dessen Mitarbeiter sind in einem Projekt der Akademie damit befasst, den Koran auf seine Entstehungsgeschichte und nicht zuletzt auf seine Verbindung zur Bibel hin neu zu lesen und zu kommentieren.

Dazu gehört viel Kompliziertes, aber auch ganz Einfaches, wie der Islamwissenschaftler Michael Marx den Schülern erklärt: "Es hilft schon, sich zu fragen, was das für eine Welt war, in der Mohammed im siebten Jahrhundert seine Lehre verbreitete - nämlich eine weitgehend christlich geprägte." Noch etwas schüchtern, aber mit unverhohlener Neugier sitzen die Zwölftklässler ihm gegenüber. Aber es hilft nichts: Nach einer kurzen theoretischen Einführung müssen sie nun selbst denken.

Eine Sure aus dem Koran tönt durch den Raum am Berliner Gendarmenmarkt, auf Arabisch, und in der selben unverkennbar melodiösen Art, in der der Ruf des Muezzins in islamischen Ländern aus den Minaretten der Moscheen über die Dächer schallt. Was fällt den Schülern auf? "Der Singsang-Tonfall", ruft einer, ein anderer: "Es ist eine Art Reim, jedenfalls am Anfang." "Sehen Sie", antwortet Yvonne Pauly, "man muss einen Text nicht verstehen, um etwas über ihn zu lernen."

Besser geht es dann doch mit der ausgehändigten Übersetzung: "Im Namen Gottes des barmherzigen Erbarmers, wenn sich die Sonne zusammenballt, wenn der Sterne Leuchten verhallt, wenn die Berge werden bewegt, Wenn hochträcht'ge Kamele nicht mehr werden gepflegt…", lesen die Schüler, und schließlich: "Es ist nicht das Wort des steinigungswürdigen Satans. Wohin versteigt ihr Euch? Es ist nur eine Mahnung an die Weltbewohner, für den von Euch, der auf geradem Wege wandeln will. Doch ihr wollt nicht - es sei denn Gott, der Herr der Weltbewohner, wollte es."

Die Schüler zucken zusammen. Gott? Und klingt der Einstieg nicht fast genau wie "Im Namen Gottes, des Sohnes und des heiligen Geistes?" "Genau", sagt Michael Marx, "das ist der gemeinsame Hintergrund von Islam und Christentum. Aber dann wird der Monotheismus betont, der für den Islam ganz bestimmend ist."

Nur eine von vielen Fragen an die Sure. Andere lauten: Was ist ein steinigungswürdiger Satan? Wer spricht den Text und an wen? Pauly und Marx verteilen eine fingierte Mini-Konkordanz, eine Bibel und einen Koran. Wort für Wort tragen die Schüler in Kleingruppen zusammen, was die vergleichende Lektüre hergibt.

Und sind am Ende doch ein bisschen enttäuscht: "Ich hätte mir einen aktuelleren Text gewünscht", sagt Nadine, "irgendetwas, was auch mit Vorurteilen aufräumt". "Ich auch", sagt Jan, "aber ich glaube, das war nicht das Ziel der Veranstaltung." Womit er Recht hat. Was die Schüler gesehen haben, ist, wie ein ästhetischer und religiöser Text wissenschaftlich bearbeitet und diskutiert wird.

Für den eigenen Beruf vorstellen kann sich das nach dem halben Tag zwar niemand. Aber auch das ist nicht das Ziel: "Natürlich wollen wir gerne für die Geisteswissenschaften begeistern", erklärt Pauly, "aber wir wollen auch, dass die Schüler lernen, was Geisteswissenschaftler machen: nämlich viel Detailarbeit." Das bremst wohl auch den ein oder anderen Schüler - etwa beim Vorhaben, Germanist zu werden, weil der Deutsch-Unterricht so schön war.

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