Omikron unter der Lupe

Wie groß ist die Dunkelziffer, auf was müssen sich Kliniken einstellen? Sind die Krankheitsverläufe wirklich milder, wie sieht es bei Ungeimpften aus?
In Großbritannien liegt die Inzidenz bei knapp 1900, in Dänemark sogar über 2000. Dort und in vielen anderen Ländern ist Omikron die vorherrschende Variante. Mit welcher Entwicklung ist für Deutschland zu rechnen?
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geht davon aus, dass Omikron auch in Deutschland in den nächsten Tagen dominierend sein wird. Denn diese Variante verfügt gegenüber Delta über entscheidende Wettbewerbsvorteile: Sie ist ansteckender, befällt stärker als ihre Vorgängerin auch Geimpfte, es gibt vermutlich etliche asymptomatische Infektionen und viele sehr milde Verläufe. Letztere sind leicht mit einer Erkältung zu verwechseln und können deshalb dazu verleiten, sich nicht testen zu lassen und weiter unter Leute zu gehen. In seinem Podcast äußert Charité-Virologe Christian Drosten gleichwohl die Hoffnung, „dass wir in Deutschland nicht so überwältigt werden wie in anderen Ländern“; Omikron verbreite sich langsamer als in Großbritannien.
Andreas Schuppert, Direktor des Joint Research Center for Computational Biomedicine an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, geht zwar von einer „erheblichen Dunkelziffer aus, wie er in einem Pressegespräch beim Science Media Center (SMC) sagte. Er glaube allerdings nicht, dass die tatsächlichen Zahlen deutschlandweit doppelt oder dreimal so hoch seien wie die gemeldeten Inzidenzen. Der Wissenschaftler beklagt mit Blick auf die unklare Lage „systematische Versäumnisse im Gesundheitswesen“. Die einzig zuverlässigen Daten seien die des Registers der Divi, der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. „Wir haben in Deutschland ein Datenproblem.“ Auch sämtliche großen Studien stammten aus dem Ausland.
Führt Omikron tatsächlich zu leichteren Verläufen?
Mehrere Studien zeigen, dass Omikron die Lunge weniger stark befällt und dort seltener zu den mit schweren Verläufen einhergehenden Entzündungen führt als Delta, Alpha oder das Wildvirus. Wie Erkältungserreger tummelt sich Omikron vor allem in den oberen Atemwegen, in der Nase und dem Rachen bis in die Bronchien. Auch scheint die Krankheitsdauer kürzer zu sein.
Das Risiko, wegen Covid ein Krankenhaus aufsuchen zu müssen, reduziere sich bei Omikron um 20 bis 25 Prozent, das eines längeren Aufenthalts um 40 bis 45 Prozent, sagt der Infektiologe Clemens Wendter, Leiter der Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen an der München Klinik Schwabing. Das deckt sich mit aktuellen Studienergebnissen aus Großbritannien. Eine Analyse der UK Health Security Agency kommt sogar zu dem Ergebnis, dass das Risiko einer Behandlung in der Notfallambulanz oder im Krankenhaus für Erwachsene bei Omikron nur etwa halb so hoch ist wie Delta. Allerdings dürfe man nicht von einem „Schwarz-Weiß-Effekt“ ausgehen, sagt Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Die Unterschiede seien „graduell“. Risikofaktoren spielten auch bei Omikron eine Rolle. Zu diesen zählen hohes Alter, starkes Übergewicht und bestimmte Vorerkrankungen, etwa Diabetes.
Eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf hat indes festgestellt, dass auch milde Covid-Verläufe Organe schädigen können. So könne das Virus das Gesamt-Lungenvolumen um drei sowie die Pumpkraft des Herzens und die Filterleistung der Nieren um zwei Prozent im Vergleich zu einer Kontrollgruppe verringern. Allerdings wurden keine Fälle einer Infektion mit Omikron untersucht.
Wie sieht es bei Ungeimpften aus?
Noch nicht sicher einschätzen lässt sich, ob die aus stark betroffenen Ländern wie Großbritannien oder Südafrika berichteten milden Verläufe vor allem damit zu tun haben, dass dort viele Menschen eine Grundimmunität besitzen – also geimpft sind und/oder eine Infektion durchgemacht haben. Man weiß deshalb nicht genau, wie ungeimpfte Menschen, die nie infiziert waren, auf Kontakt mit Omikron reagieren. Jörg Timm geht allerdings davon aus, dass Omikron auch bei Ungeimpften zu weniger schweren Verläufen führt.
Welche Symptome können auftreten?
Eine Infektion mit Omikron ähnelt bei vielen Menschen einer Erkältung: Sie haben Schnupfen, Halsschmerzen, Husten sowie Kopf- und Gliederschmerzen. Die früher für das Coronavirus typischen Störungen des Geschmacks- und Geruchssinns sind bei Omikron nicht charakteristisch. Auffällig oft wird hingegen von starker Müdigkeit berichtet.
Wie lange ist die Inkubationszeit?
Zwischen Ansteckung und dem Zeitpunkt, an dem Viren im Rachen oder der Nase nachgewiesen werden können, vergehen bei Omikron im Schnitt etwa drei bis vier Tage. Das ist weniger als bei den Vorgängern, wo es im Schnitt fünf bis sechs Tage dauerte.
Auf welche Situation müssen sich die Kliniken einstellen?
In Großbritannien ist zu beobachten, dass die Einweisungen auf Intensivstationen und die Todeszahlen nicht im gleichen Tempo wie die Fallzahlen steigen. Drosten kommentiert in seinem Podcast, man habe im Moment den Eindruck: „Vielleicht baut sich da gar nicht so ein großes Problem auf.“ Es gibt jedoch Befürchtungen, dass die schiere Menge an Infektionen dafür sorgen könnte, die Kliniken zu belasten. „Wir sehen schwere Verläufe auch bei Omikron“, sagt Clemens Wendter. Er weist zudem darauf hin, dass beim Abflauen der vierten Welle nicht so eine starke Talsohle wie früher erreicht wurde – und es jetzt auf höherem Niveau in die nächste Welle gehe.
Was ist mit Long Covid?
Covid-19 kann bei einigen Patientinnen und Patienten lang anhaltende Beschwerden unterschiedlicher Art verursachen, Konzentrationsstörungen etwa, Kurzatmigkeit und Erschöpfung. Das kann auch passieren, wenn jemand nicht schwer an Covid erkrankt war. Deshalb ist Long Covid bei milden Verläufen durch Omikron nicht ausgeschlossen. Weil die Variante erst seit kurzem kursiert, lassen sich dazu aber noch keine belastbaren Aussagen treffen.
Wie gut schützen zwei, drei oder vier Impfdosen?
Mehrere Studien weisen auf eine große Zahl von Impfdurchbrüchen bei Omikron hin. Je nach Alter, eigenem Immunsystem, Impfstoffkombination und Zeitpunkt der letzten Impfung sinkt der Schutz vor Infektion unterschiedlich stark. Eine aktuelle Analyse der UK Health Security Agency kommt für zwei Dosen mRNA-Impfstoff nach 20 Wochen auf zehn Prozent Wirksamkeit gegenüber einer symptomatischen Infektion mit Omikron, wie das Fachmagazin Medscape berichtet. Ein Booster kann den Schutz wieder deutlich erhöhen, jedoch ist er nicht mehr ganz so groß wie bei früheren Varianten. Zudem scheint die Wirkung nach etwa zehn Wochen allmählich nachzulassen, wie Daten der britischen Gesundheitsbehörde und Studien nahelegen. Der Schutz vor einem schweren Verlauf bleibe gleichwohl hoch, betonen Fachleute. Andreas Schuppert beziffert ihn auf 90 Prozent. Weil auch die Auffrischungsimpfung nur begrenzte Zeit vor einer Infektion bewahrt, hat Israel begonnen, eine vierte Impfdosis zu testen. Die erste Bilanz fällt durchwachsen aus. Zwar berichtet Studienleiterin Gili Regev von einem fünffachen Anstieg der Antikörper, was sie als „gut, aber nicht ausreichend“ bewertet. Zudem sei man kurz nach der vierten Impfung wieder auf dem demselben Stand wie kurz nach der dritten. Sie habe sich mehr erhofft.
Clemens Wendter überrascht das Nachlassen der Immunantwort bei einem Erreger, der die Schleimhäute der Atemwege befällt, nicht. Er gehe davon aus, dass weitere Auffrischungsimpfungen notwendig seien – nicht langfristig für die gesamte Bevölkerung, aber für Risikogruppen. Der Infektiologe vermutet allerdings, dass mit Blick auf die geringere Wirksamkeit bei Omikron ein Nacharbeiten und Anpassen der Impfstoffe notwendig wird. Die Entscheidung darüber solle nicht allein den Herstellern überlassen werden, sagte Abdi Mahamud von der Weltgesundheitsorganisation WHO gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
Wie gut wirken Antikörper und Medikamente noch?
Die meisten therapeutischen Antikörper wirken nicht mehr ausreichend. Das lässt sich leicht erklären, da sie auf den Antikörpern von Menschen basieren, die eine Infektion mit einer früheren Virusversion durchgemacht haben. Dazu zählen unter anderem „Ronapreve“ mit den Antikörpern Casirivimab und Imdevimab (Roche/Regeneron) sowie die Kombination von Etesevimab und Bamlanivimab von Eli Lilly. Noch wirken soll hingegen Sotrovimab (GlaxoSmithKline/Vir Biotechnology). Da die neuen antiviralen Tabletten Paxlovid (Pfizer) und Molnupiravir (MSD, in den USA und Kanada bekannt als Merck & Co., Inc., Kenilworth, NJ, USA) auf anderen Wirkmechanismen basieren, sind sie von den Einbußen an Effektivität nicht betroffen. Paxlovid soll das Risiko einer Hospitalisierung bei Risikopatientinnen und -patienten um 90 Prozent senken, Molnupiravir um rund 30 Prozent. „Sie könnten uns in der fünften Welle sehr helfen“, lautet die Einschätzung von Clemens Wendter.
Schlagen Tests zuverlässig an?
Die Zuverlässigkeit der PCR-Tests sei genauso hoch wie bei früheren Varianten, sagt Jörg Timm. Auch Antigen-Tests seien „nach allem, was wir jetzt sagen können“, nicht beeinträchtigt, weil die Veränderungen des Nukleokapsid-Proteins (nach dem in Schnelltests gesucht wird) gering ausfielen. Eine am Dienstag preprint veröffentlichte Studie aus den USA kam zu dem Ergebnis, dass Antigen-Tests Infektionen mit Omikron allerdings zu einem frühen Zeitpunkt oft nicht erkennen.