Die Moral der Tiere

Ein Forscher-Duo ist der Ansicht, dass nicht nur Menschen Gefühle wie Trauer, Empathie und Schuldbewusstsein empfinden.
Trauer, Mitgefühl, ein schlechtes Gewissen – sind solche Regungen nur Menschen vorbehalten? Das ist unter Experten umstrittener als man als Laie meinen könnte. Der Evolutionsbiologe Marc Bekoff und die Bioethikerin Jessica Pierce haben zum Thema eine klare Meinung, die sie in ihrem Buch „Sind Tiere die besseren Menschen?“ ausführlich darlegen. „In diesem Buch argumentieren wir, dass Tiere ein breites Repertoire an moralischen Verhaltensweisen besitzen und dass ihr gesamtes Leben durch diese Verhaltensweisen bestimmt wird.“ Die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zum Verhalten von Tieren aus den vergangenen Jahren forderten insbesondere eine Annahme heraus: dass Menschen die einzigen moralischen Lebewesen sind. Das Autoren-Duo gibt zunächst einen Überblick über die aktuelle Forschung zu moralischem Verhalten bei Tieren. Anschließend werden Grundlagen für tierische Gerechtigkeit vorgestellt, und es wird erklärt, wie Wissenschaftler das Verhalten von Tieren interpretieren. Bekoff und Pierce gehen dann der Verbindung zwischen Intelligenz und Moral nach und erklären zuletzt, was für Konsequenzen es hat, wenn wir Moral so definieren, dass sie auch Tiere umfasst. Gleich zu Beginn stellen sie klar: „In diesem Buch wird die Meinung vertreten, dass Tiere Empathie füreinander empfinden, dass sie einander fair behandeln, dass sie kooperieren und dass sie sich gegenseitig in Notsituationen helfen.“
Kooperative Verhaltensmuster in der Tierwelt
Immer wieder gebe es Episodenberichte etwa zu moralischem, mitfühlendem Verhalten bei Menschenaffen. Was oft noch fehle, seien wissenschaftlich allgemein akzeptierte Analysen. Viele Annahmen über Tiere und ihr Verhalten seien noch immer geprägt von Charles Darwins Evolutionstheorie: „Die natürliche Selektion ist ein Rüstungswettlauf, und es geht um die besten Plätze. Leben bedeutet „Jeder gegen jeden“ im blutigen und rücksichtslosen Kampf um Fortpflanzung und Nahrung.“ Die Natur durch diese enge Brille zu betrachten, verkaufe sich gut im Fernsehen, spiegele aber nur einen Teil der tatsächlichen Realität wieder. Neben Konflikten und Konkurrenz gebe es eine außergewöhnlich große Zahl an kooperativen Verhaltensmustern und gegenseitiger Hilfe. Lange sei dies von der Forschung komplett ignoriert worden. „Erst als Menschen anfingen, auf die „guten“ Verhaltensweisen von Tieren zu achten – auf das, was Tiere tun, wenn sie nicht kämpfen -, haben sie bemerkt, wie reichhaltig das soziale Leben vieler Tierarten ist.“ Dies gelte nicht nur für die Interaktionen zwischen eng verwandten Tieren – und nicht nur bei Menschenaffen, sondern auch schon bei Maus und Ratte, schreiben die Autoren. Ratten zum Beispiel nähmen kein Futter auf, wenn sie wüssten, dass dies zu Schmerzen bei anderen Ratten führen würde. Bekoff und Pierce berichten über soziale Normen in Pavian-Gruppen und von Raben, die Plünderer attackieren, die die Futterverstecke von Artgenossen leergeräumt hatten – ähnlich der menschlichen Justiz, die die Interessen einzelner Gruppenmitglieder verteidigt. „Die Vorstellung, dass Menschen Moral besitzen und Tiere nicht, ist eine so alte Annahme, dass sie schon fast eine Gewohnheit des menschlichen Geistes genannt werden kann“, schreiben sie. „Und Gewohnheiten, wie wir alle wissen, sind schwer abzulegen.“ Zudem sei es weit einfacher, Moral bei Tieren zu verneinen, als sich mit den komplexen Auswirkungen auseinanderzusetzen, die eine tierische Moral haben könnte. Das Autoren-Duo erklärt, warum aus seiner Sicht Analogien und Anekdoten in dem Bereich so wichtig sind und nicht als verpönt gelten sollten. Es erzählt vom Umgang von Artgenossen mit dem geistig und körperlich behinderten Schimpansen „Knuckles“, der nicht nur von Gleichaltrigen, sondern auch Ranghöheren freundlich behandelt wird.
Bekoff und Pierce zerlegen typische Argumente
An anderer Stelle werden Analysen einer Psychologin dazu beschrieben, wie kleine Kinder auf den Stress eines Familienmitglieds reagieren. Bei den Hausbesuchen habe sich die Reaktion der Haustiere als mindestens genauso interessant entpuppt: „Wenn ein Familienmitglied vorgab, traurig oder gestresst zu sein – wenn er oder sie vorgab, zu weinen oder zu keuchen -, zeigte der Hund im Haus öfter Beunruhigung als die Kinder; er setzte sich neben die gestressten Personen, sprang an ihnen hoch oder legte einfach nur den Kopf in ihren Schoß.“ Bekoff und Pierce zerlegen typische Argumente, dass es Tieren an Voraussetzungen für Moral fehle: ausreichender Klugheit etwa, moralischen Emotionen, Empathie und rationalem Denken, der Fähigkeit zur Selbstbeurteilung, einem freien Willen, einem Gewissen. Alle Einwände werden diskutiert – und verworfen. Vorgestellt wird zudem die sogenannte Social Intelligence Hypothesis (SIH), nach der die Entwicklung sozialer Fähigkeiten die Entwicklung der Intelligenz stark vorangetrieben hat. Einige der im Buch vorgestellten Forschungsergebnisse stammen aus den 1960-er Jahren, andere wie die zur Bedeutung der Spiegelneuronen sind zwar aktueller, aber bereits teilweise widerlegt oder zumindest umstritten – was im Buch nicht erwähnt wird. Jane Goodall, weltberühmte Schimpansenforscherin, wird vom Verlag mit den Worten zitiert: „Lest dieses Buch, gebt es weiter und tragt die Botschaft in Eure Klassenzimmer, Wohnungen und Büros!“ Wichtige Denkanstöße bietet es sicherlich, ein besonders gelungenes Buch ist es allerdings weder sprachlich noch vom Aufbau her. (dpa)