Energiewende: In deutschen Windparks sterben wohl mehr als 200.000 Fledermäuse pro Jahr

Untersuchungen des Leibniz-Instituts zeigen: Viele Flugsäuger kommen an alten Windkraftanlagen zu Tode. Dadurch werden Nahrungsketten unterbrochen.
Berlin – Obwohl Fledermäuse streng geschützt sind und für sie ein Tötungsverbot gilt, kommen jedes Jahr geschätzt mehr als 200 000 in deutschen Windparks um, vor allem an alten Anlagen ohne feste Abschaltzeiten“, sagt Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin (Leibniz-IZW). Das bedrohe nicht nur einzelne Populationen, sondern habe weitreichende Auswirkungen auf den Lebensraum der Tiere und die dortige Artenvielfalt. „Wir verlieren mit den Fledermäusen ihre Funktion in der Landschaft.“
Es ist ein konfliktträchtiges, emotional aufgeladenes Thema, das sich Voigt und sein Team in mehreren Studien vorgenommen haben: Die Forschenden untersuchen den Tod von Fledermäusen durch Windkraft und dessen Folgen. Letztere sollen beträchtlich sein, weil Nahrungsketten unterbrochen werden und manche Schädlinge sich dadurch stark vermehren können. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben dazu mehrere Artikel in Fachmagazinen veröffentlicht.
Dass Windräder für einige Fledermausarten gefährlich werden können, ist lange bekannt. Es gilt deshalb seit gut zehn Jahren die Auflage, dass während bestimmter Zeiten der Betrieb pausieren muss. Kritisch seien vor allem die Wochen zwischen Mitte Juli und Mitte Oktober, wenn Fledermäuse sehr aktiv seien, erklärt Voigt, „insbesondere während warmer Nächte mit geringer Windgeschwindigkeit“. Jedoch seien ältere Anlagen von den Auflagen ausgenommen – diese machen nach Angaben des Kompetenzzentrums Naturschutz und Energiewende (KNE) rund 75 Prozent der Onshore-Anlagen aus.
In Windparks verstorbene Fledermäuse werden schnell von Aasfressern „abgetragen“
Wie viele Fledermäuse genau zu Tode kommen, ist jedoch nur schwer präzise zu beziffern. „Zum einen finden wir nur einen Bruchteil der Kadaver in der hohen Vegetation, zum anderen werden sie durch Füchse sowie Krähen und Greifvögel relativ schnell wieder abgetragen“, erklärt Carolin Scholz, Wissenschaftlerin am Leibniz-IZW. So hätten bei einem Experiment mit Mäusekadavern selbst „erfahrene Suchteams“ nur 17 Prozent gefunden, knapp die Hälfte sei zudem innerhalb von 24 Stunden von Aasfressern entfernt worden.
Basierend auf diesen Werten errechneten die Forschenden beispielhaft die Schlagopferzahlen an einem seit 2001 laufenden Windpark mit drei Anlagen in der Nähe von Berlin. Sie kamen auf 70 pro Anlage in zwei Monaten. Für das gesamte Bundesgebiet gehen die Leibniz-Forschenden von jährlich rund 200 000 getöteten Fledermäusen aus. „Das ist eine massive Zahl für eine Art, bei der Weibchen in der Regel nur ein Jungtier pro Jahr gebären“, kommentiert Voigt. Er hegt den Verdacht, „dass viele alte Anlagen an falschen Standorten stehen, wo es viele Fledermäuse gibt“.
Nicht alle Fledermausarten sind gleichermaßen durch Windkraft gefährdet. Ein Risiko stellt sie vor allem für Offenraumjäger wie den Großen Abendsegler und die Breitflügelfledermaus sowie für Strukturrandjäger wie die Zwergfledermaus und die Rauhautfledermaus dar; unter den Opfern befinden sich überdurchschnittlich viele junge Tiere. Einige Fledermäuse würden von den Anlagen geradezu angelockt, erklärt Voigt, insbesondere während der Paarungsmonate. „Möglicherweise halten sie die Masten für abgestorbene Bäume mit Quartieren und fliegen sie an.“
Fledermäuse nutzen Echo zur Orientierung – das funktioniert bei Windrädern nicht
Gesichert ist, wie die Tiere zu Tode kommen: „Fledermäuse können die Gefahr nicht erkennen. Sie orientieren sich mit Echoortung, was 20 bis 40 Meter vor ihnen liegt, nehmen sie stroboskopblitzartig wahr“, erklärt der Zoologe. „Wenn dann von der Seite eine rote Spitze mit 120 Stundenkilometern auf sie zukommt, können die Tiere nicht mehr ausweichen. Fledermäuse sterben entweder durch direkten Schlag oder weil sie durch Luftdruckveränderung ein Barotrauma erleiden.“
Windkraft und Artenschutz , Alte und Neue Anlagen
Fledermäuse sind nach dem Bundesnaturschutzgesetz und nach EU-Recht streng geschützt. Ihr Lebensraum darf nicht gestört und kein Tier darf getötet werden, dabei macht es keinen Unterschied, ob absichtlich oder aus Versehen.
Grundsätzlich müssen bei allen Windenergie-Projekten die Vorgaben des Artenschutzes berücksichtigt werden. Allerdings will die Regierung im Zuge des geplanten beschleunigten Ausbaus Gesetze anpassen oder verabschieden, die zum Teil den Artenschutz tangieren. Unter anderem soll es einfacher werden, Anlagen über eine Ausnahme vom Bundesnaturschutzgesetz zu genehmigen.
Nach aktueller Rechtslage steht der Schutz individueller Tiere im Fokus. Künftig könnte stattdessen ausschlaggebend sein, dass sich der Zustand der Populationen einer Art durch den Bau von Anlagen nicht verschlechtert. pam
In Deutschland gibt es nach Angaben des Bundesverbandes Windenergie 29 731 Windkraftanlagen, 28 230 befinden sich an Land, 1501 auf See.
Mit Abschaltungen zu bestimmten Zeiten sollen Fledermäuse, aber auch Greifvögel wie der Rotmilan geschützt werden. Für Anlagen, die vor 2009 errichtet wurden, galten bei der Inbetriebnahme meist keine verbindlich geregelten Abschaltzeiten. Laut des aus dem Haushalt des Umweltministeriums finanzierten Kompetenzzentrums Naturschutz und Energiewende (KNE) dürften sie nur in „vernachlässigbar geringer Zahl mit Fledermaus-Abschaltungen belegt sein“.
Die Zahl dieser älteren Anlagen ist laut KNE beträchtlich: Demnach sollen bis Ende 2009 knapp 20 000 Windkraftanlagen errichtet worden sein, von denen bis 2019 nur 3200 durch neue Anlagen ersetzt worden seien.
Bei den neueren Anlagen wurden die Vorgaben laut KNE sukzessive umgesetzt. So sollen die von 2009 bis 2011 errichteten Anlagen zu 30 Prozent mit Abschaltzeiten laufen, bei den ab 2015 in Betrieb genommenen seien es 90 Prozent, bei den ab 2018 errichteten 95 Prozent.
Insgesamt geht das KNE davon aus, dass Stand Ende 2019 nur knapp 7000 Windkraftanlagen in Deutschland mit Abschaltungen betrieben wurden. pam
Für das Leibniz-Institut hat eine Pathologin Fledermäuse untersucht, die durch ein Barotrauma zu Tode gekommen sind: Manche Tiere waren äußerlich völlig intakt, berichtet Voigt, wiesen trotz ihrer fragilen Knochen keine Brüche auf. „Bei der Untersuchung zeigte sich dann, dass der ganze Thorax und manchmal auch der Unterleib mit Blut gefüllt waren, weil die Gefäße geplatzt sind. Die Tiere sind innerlich verblutet.“ Mit neuartigen Windenergie-Anlagen ohne Rotorenblätter, wie sie ein spanisches Start-up entwickelt hat, würde das Problem wohl der Vergangenheit angehören.
Fledermäuse sind nützlich für Regulierung von Insektenbeständen
Die Berliner Forschenden ließen die Fledermäuse aber noch aus einem anderen Grund aufschneiden: Sie untersuchten den Mageninhalt, um aus DNA-Resten zu bestimmen, was das Tier zuletzt gefressen hat. Dabei stellten sie fest, dass die Fledermäuse Insekten aus den verschiedensten, zum Teil mehrere Kilometer entfernten Lebensräumen verzehrt hatten – darunter etliche Schädlinge in der Land- und Forstwirtschaft. „Fledermäuse spielen eine wichtige Rolle bei der natürlichen Regulierung von Insektenbeständen. Mit ihnen geht diese Serviceleistung verloren“, sagt Voigt. Eine der Folgen sei ein höherer Schadfraß durch die betreffenden Insekten, „was dann möglicherweise durch das höhere Ausbringen von Pestiziden ausgeglichen wird“.
Insgesamt, mutmaßen die Forschenden, mache der Verlust von Fledermäusen Ökosysteme anfälliger für Störungen. Um die Zusammenhänge genauer zu verstehen, bedürfe es aber noch Forschung. Es müsse untersucht werden, „auf welche Weise sich die Energiewende auf die biologische Vielfalt in den betroffenen Lebensräumen auswirkt“.
Voigt betont, „dass unsere Forschung die Energiewende nicht behindern soll“. Es stehe „außer Frage“, dass Windkraft ein wichtiger Beitrag zum Schutz des Klimas sei. „Wir stehen auf der Seite derjenigen, die sie vorantreiben wollen. Aber das sollte ökologisch verträglich geschehen.“ Dafür müsse man die möglichen Nebenwirkungen im Blick behalten – „und zwar alles von der Produktion bis zum Abbau. Momentan aber betreiben wir die Energiewende so, als ob keine der Anlagen irgendwelche Folgen für das Ökosystem hätte.“
Alte Anlagen anpassen
Konkret plädieren die Studienautor:innen dafür, den Betrieb alter Anlagen den aktuellen Regeln „anzupassen“ und Abschaltzeiten verpflichtend zu machen. An „besonders ungünstigen Standorten“ müsse auch ein Abbau in Erwägung gezogen werden. Neue Anlagen, ergänzt Voigt, sollten nur in Gebieten „mit ausreichend Wind“ platziert werden. „Das alles würde die negativen Folgen einer immer intensiveren Landnutzung durch die Energiewende auf unserer Ökosystem auf ein Minimum beschränken und hätte noch einen weiteren Effekt“, sagt der Biologe:
„Es würde auch den Frust bei vielen älteren Naturschützern reduzieren, von denen etliche in den letzten Jahren für die Energiewende verloren gegangen sind, weil sie den Eindruck haben, dass niemand ihre Stimme hört. Es würde einen kleinen Heilungsprozess schaffen“. (Pamela Dörhöfer)