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Experten: Medizin macht große Fortschritte, trotzdem werden künftig mehr Menschen an Krebs sterben

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Von: Pamela Dörhöfer

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Die Diagnostik berücksichtigt zunehmend individuelle Unterschiede. Doch die Überlebenschancen bei Krebs sind nicht überall gleich - auch nicht in Deutschland.

Es mag zunächst wie ein Paradoxon klingen: Seit der Jahrtausendwende hat die Krebsmedizin große Fortschritte gemacht, die Diagnostik kann bereits kleinste Tumore erkennen und besser differenzieren, bei der Therapie existieren mehr und oft schonendere Optionen als früher. Gleichwohl ist weltweit nicht nur mit deutlich mehr Neuerkrankungen zu rechnen, sondern auch mit einer zunehmenden Zahl von Menschen, die an Krebs sterben werden. Für den von Experten prognostizierten Anstieg gibt es im Wesentlichen drei Gründe: die wachsende Weltbevölkerung, die alternden Gesellschaften in den Industrienationen sowie der veränderte Lebensstil in vielen Ländern Asiens und Afrikas, wo der Tabakkonsum zugenommen hat und mehr verarbeitete Produkte gegessen werden als früher.

Unzählige Krebs-Neuerkrankungen 

Insgesamt leben derzeit 44 Millionen Menschen mit der Krankheit, jedes Jahr kostet sie rund zehn Millionen Leben. 2018 erkrankten weltweit 18 Millionen neu an Krebs, vier Millionen mehr als noch 2012; Tendenz weiter steigend. „Ein Tsunami kommt auf uns zu“, sagt Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg (DKFZ). „Das bedeutet eine enorme Herausforderung für die Gesundheitssysteme, die Gesellschaft und die Forschung. Wir benötigen noch viel mehr Wissen.“

Auch in Deutschland werden stetig mehr Menschen mit einer Krebsdiagnose konfrontiert, aktuell trifft es jährlich 500 000 Frauen, Männer und Kinder, für 2030 geht Baumann von 600 000 Neuerkrankungen aus. 65 Prozent der Patienten in Deutschland leben fünf Jahre nach der Diagnose noch, im internationalen Vergleich liegt dieser Wert in der Spitzengruppe.

Das eine Mittel gegen Krebs wird es wohl niemals geben

Die Chancen, die gefürchtete Krankheit zu überstehen, sind rund um den Globus ungleich. In Ländern mit höherem Einkommen leben die Patienten im Durchschnitt länger, eine wichtige Rolle spielen zudem das System der Früherkennung und die Geschwindigkeit, mit der neue Medikamente in einem Land zur Verfügung stehen. Das ergab jüngst eine im Fachmagazin „The Lancet“ veröffentlichte Studie.

Aber auch innerhalb Deutschlands bieten sich Patienten nicht überall die gleichen Möglichkeiten. Die Krebsmedizin ist im Umbruch, in bemerkenswertem Tempo. Neues Wissen und innovative Verfahren kommen jedoch nicht in jedem Krankenhaus gleich schnell an. Ein grundsätzliches Problem besteht überdies darin, dass Erkenntnisse aus der Forschung oft lange brauchen, bis sie es in die Praxis schaffen und Patienten in der Breite zugutekommen können.

Krebs erkennen: Die Verfahren werden präziser und schonender

Das Verständnis von Krebs hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend geändert. Die Basis dafür liefert die Entschlüsselung von immer mehr Mechanismen auf molekularer Ebene, die beim Wachsen bösartiger Tumore ablaufen und ihnen helfen, das Immunsystem lahmzulegen sowie weitere Schranken im Körper zu überwinden. Dabei bedienen sich Krebszellen nicht immer einheitlicher Mittel, was die Sache erschwert.

Krebs: Tumore können sich erheblich voneinander unterscheiden

Auch weiß man mittlerweile, dass sich Tumore mit der gleichen Lokalisation – zum Beispiel in der Brust, der Prostata oder der Lunge – erheblich voneinander unterscheiden können und auch anders behandelt werden müssen. Die gängige Einteilung der Krebsarten nach Organen reicht deshalb bei weitem nicht mehr aus. Sogar der Tumor in sich ist kein einheitliches Gebilde, sondern besteht aus vielen unterschiedlichen Zellpopulationen, die sich mit der Zeit auch noch verändern und Resistenzen gegen zuvor wirksame Behandlungen entwickeln können. „Keine Krankheit ist so heterogen wie Krebs“, sagt Michael Baumann.

Das eine Mittel gegen Krebs gibt es nicht

Je mehr man herausfindet, als desto komplexer erweist sich die Erkrankung und als desto naiver frühere Hoffnungen, das eine Mittel gegen Krebs zu finden. So geht die Wissenschaft heute davon aus, dass Menschen aufgrund ihrer genetischen Ausstattung unterschiedlich empfindlich auf Einflüsse reagieren, etwa durch eine als ungesund geltende Ernährungsweise oder das Rauchen. (Was der Grund dafür sein dürfte, warum der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt trotz exzessiven Zigarettenkonsums ein hohes Alter erreicht hat.)

„Das persönliche Risiko ist von Mensch zu Mensch völlig unterschiedlich. Deshalb brauchen wir auch eine personalisierte Prävention“, sagt Michael Baumann. Dieses individuelle Risiko zu bestimmen, erweist sich heute indes immer noch als schwierig.

Krebspatienten liefern Daten über die Erkrankung

Forscher arbeiten seit einigen Jahren daran, so viele genetische Informationen von Krebspatienten wie möglich zu sammeln, um daraus Erkenntnisse zu ziehen – für den einzelnen Fall, aber auch über die Krankheit allgemein. Ein gewaltiges und mit Blick auf die sensible Natur der Daten nicht unproblematisches Unterfangen. Von der Untersuchung am Erbgut von Tumoren erhoffen sich Wissenschaftler „eine genaue molekulare Diagnose und eine darauf aufbauende Therapie“, erklärt Stefan Wiemann, Leiter der Abteilung Molekulare Genomanalyse am DKFZ. Die Krebserkrankung eines Menschen sei „ebenso individuell wie sein Erbgut“. Auch weiß man mittlerweile, dass die gleiche Therapie bei verschiedenen Patienten ganz unterschiedlich wirken kann.

So sieht es aus, wenn der Körper sich gegen Krebs wehrt: T-Lymphozyten des Immunsystems attackieren eine Tumorzelle.
So sieht es aus, wenn der Körper sich gegen Krebs wehrt: T-Lymphozyten des Immunsystems attackieren eine Tumorzelle. © Getty/ luismmolina

„Maßgeschneidert“ oder „personalisiert“ sind häufig verwendete Begriffe der modernen Krebsmedizin. Bei einer wachsenden Zahl von Tumorarten stützt sich die Bandbreite möglicher Behandlungen nicht mehr nur auf Operation, Chemo- und Strahlentherapie. Immuntherapien, die vom Krebs eingerichtete Bremsen bei der Körperabwehr lösen sollen, und zielgerichtete Medikamente, die nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip bestimmte Merkmale auf Tumorzellen angreifen, ergänzen die drei traditionellen Säulen.

Oft gibt es bei der Behandlung nicht mehr nur den einen Weg, sondern Alternativen, deren Vor- und Nachteile es abzuwägen und dem jeweiligen Krankheitsverlauf flexibel anzupassen gilt; am besten im Dialog zwischen Ärzten mehrerer Fachrichtungen – und mit dem Patienten. Soweit zumindest der Idealfall.

Innovationen bei der Krebs-Diagnostik: Detailgenaue Bildgebungsverfahren

Viele Menschen jedoch dürften aus ihrem Bekanntenkreis Beispiele kennen, die belegen, dass es in der Praxis nicht immer so läuft. Immuntherapien und insbesondere zielgerichtete Medikamente etwa erfordern eine molekulare Untersuchung, weil sie nur anschlagen, wenn der Tumor spezielle Eigenschaften aufweist. Solche Tests sind aber nicht an allen Krankenhäusern in gleichem Umfang Routine. So berichtet Martin Sebastian, Lungenkrebsspezialist am Uniklinikum Frankfurt, dass in Deutschland insgesamt höchstens drei von vier Patienten mit Lungenkrebs auf bestimmte Mutationen getestet würden, bei denen ein zielgerichtetes Medikament nachweislich lebensverlängernd wirke.

Bei der Diagnostik hat es gerade in der jüngsten Vergangenheit einschneidende Neuerungen gegeben. Dazu gehören neben molekularen Tests auch Verfahren der Bildgebung, die so detailgenau sind, dass sie etlichen Patienten eine Biopsie ersparen oder im fortgeschrittenen Stadium winzigste Metastasen erkennen können. Neu ist auch die Methode, Bildgebung mit genetischen und klinischen Daten zu koppeln, um exaktere Aussagen über den Krebs und die Wirksamkeit einer Therapie treffen zu können.

Revolution bei der Krebs-Diagnostik durch Künstliche Intelligenz

Für eine Revolution dürfte bei der Diagnostik und zum Teil auch bei der Therapie der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) sorgen. Lernende Systeme sollen Radiologen dabei unterstützen, verdächtige Befunde auf Röntgenbildern oder Aufnahmen von Magnetresonanztomographen zu erkennen. Werden sie einer Bestrahlung vorgeschaltet, lässt sich die Therapie exakter planen. Und auch Pathologen profitieren bei der Beurteilung der Gewebeproben von Künstlicher Intelligenz. Die Algorithmen sollen teilweise sogar in der Lage sein, vorherzusagen, ob eine Therapie erfolgreich sein wird.

Studien haben ergeben, dass die Maschinen genauso zuverlässig arbeiten wie menschliche Spezialisten, oft sogar noch etwas besser, weil sie keine Konzentrationsprobleme kennen. Die letzte Entscheidung treffe aber immer noch der Mensch; das werden Experten nicht müde zu betonen.

Künstliche Intelligenz gegen Krebs: „gigantischer Umbruch“

„Wir stehen vor einem gigantischen Umbruch“, sagt Heinz-Peter Schlemmer, Leiter der Abteilung Radiologie am DKFZ. Allerdings offenbaren sich am Beispiel der Künstlichen Intelligenz auch symptomatisch Problematiken der modernen Krebsmedizin: Wie beim Anlegen und Sammeln von genetischen Tumorprofilen müssen die Systeme mit einer Flut von Patientendaten gefüttert werden, damit sie lernen können, „gesund“ von „bösartig“ zu unterscheiden. Hier stellt sich wieder die Frage des sicheren Umgangs mit diesen Informationen, daran ändert auch die Anonymisierung der Daten nichts.

Zudem werden Algorithmen in Deutschland bislang nur an einigen Universitätskliniken in der Diagnostik eingesetzt. In kleineren Krankenhäusern oder niedergelassenen Praxen sei die Technologie in der Regel noch nicht angekommen, sagt Ralf Floca, Spezialist für die Entwicklung von Software für Diagnostik und Therapie. Auch an den großen Kliniken handele es sich meist noch um „handgeschusterte Algorithmen“, die von hauseigenen Ärzten mit Daten gefüttert werden. Dabei muss sichergestellt sein, dass die der Programmierung zugrunde liegenden Diagnosen richtig sind, sonst lernt das System etwas Falsches – was fatale Folgen für die Patienten haben könnte.

Algorithmen gegen Krebs - Was passiert bei einer Fehldiagnose?

Es gibt also beim Thema Algorithmen noch reichlich Unsicherheiten und Klärungsbedarf; auch juristischer Art: Wer zum Beispiel hat die Verantwortung, wenn die Maschine eine Fehldiagnose stellt und jemand deshalb falsch behandelt wird?

Jedem Patienten seine individuelle Therapie, die auf der Auswertung aller verfügbaren Daten über den eigenen Tumor und auf dem Hinzuziehen vergleichbarer Fälle aus einem größtmöglichen, am besten internationalen Datenpool beruht: Auf dieses Ziel soll es nach Ansicht vieler Krebsforscher hinauslaufen. Es braucht nicht viel, um sich auszumalen, dass nicht nur die sichere und breite Umsetzung eine Herausforderung darstellen wird – sondern auch die Finanzierbarkeit.

Häufige Krebsarten

Brustkrebs: Jedes Jahr erkranken in Deutschland rund 70.000 Patientinnen neu an Brustkrebs. Er ist damit die häufigste Krebserkrankungen bei Frauen. Auch Männer können Brustkrebs bekommen, allerdings nur sehr selten. 

Prostatakrebs: Die häufigste Krebserkrankung bei Männern in Deutschland sind Tumore der Vorsteherdrüse. Jedes Jahr werden sie bei knapp 60.000 Männern diagnostiziert. 

Darmkrebs: An einem Dickdarmkarzinom erkranken jährlich rund 58.000 Menschen in Deutschland, Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. 

Lungenkrebs: Bösartige Tumore der Lungen treten jedes Jahr bei etwa 57.000 Menschen in Deutschland neu auf, rund 35.000 davon sind Männer. 

Die Überlebensraten sind je nach Krebsart – aber auch bei verschiedenen Tumoren mit gleicher Lokalisation – sehr unterschiedlich. Grundsätzlich sehr gute Heilungschancen bestehen bei weißem Hautkrebs und bei Hodenkrebs. Schlechte Prognosen haben vor allem Bauchspeicheldrüsenkrebs, Leberkrebs, Glioblastome (das sind besonders aggressive Hirntumoren) und Lungenkrebs.

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