Das ist aus meiner Sicht ein absolutes Tabuthema. Es gibt kaum Kollegen, die deutlich belastet wirkende onkologische Patienten aktiv nach Suizidgedanken fragen. Viele Ärzte fürchten, dass sie jemanden so erst auf – wie man so sagt – „dumme Gedanken“ bringen könnten. Tatsächlich aber ist die Suizidrate unter Krebspatienten signifikant höher als in der Allgemeinbevölkerung – und die Dunkelziffer hoch. Das liegt zum einen daran, dass man selten Daten bekommt, woran ein Krebspatient am Ende gestorben ist. Denn das wird oft nicht genau erfasst – es sei denn, der Suizid ist offensichtlich. Wenn ein Patient sich aber zum Beispiel absichtlich mit Morphinen überdosiert, wird es eher nicht als Suizid erkannt.
Hat Ihre Befragung bestätigt, dass sich Krebspatienten häufig mit Suizidgedanken beschäftigen?
Eindeutig. Nur 16,6 Prozent der Befragten gaben an, noch nie mit Patienten konfrontiert gewesen zu sein, die Suizid begehen wollten oder das sogar getan haben. 60 Prozent mussten sich ein- bis dreimal damit auseinandersetzen. 25 Prozent hatten mehr als dreimal mit suizidalen Patienten zu tun. 83 Prozent der Studienteilnehmer bestätigten, dass es ein sehr wichtiges Thema ist.
Was sind die Gründe, warum Krebspatienten sich das Leben nehmen wollen?
Es gibt viele verschiedene. Ich erzähle ein Beispiel aus meiner klinischen Praxis, das mich sehr betroffen gemacht und letztlich dazu veranlasst hat, mich mit dem Thema zu beschäftigen: Ein älterer Mann, seit mehr als 40 Jahren verheiratet, erhielt die Diagnose Leukämie, mit sehr guten Behandlungsaussichten. Ein ganz unauffälliger, ruhiger Patient. Deshalb wurde er auch nicht nach psychischer Belastung gefragt. Doch eines Nachts schnitt er sich in der Klinik die Pulsadern auf und wurde von der Nachtschwester tot aufgefunden. Seine Frau hat mich zwei Jahre später aufgesucht. Sie erzählte mir, sie hätten es sich als Ehepaar versprochen, zusammen aus dem Leben zu gehen, wenn einer sehr krank würde, damit der andere nicht alleine zurückbliebe. Aus den Briefen, die ihr Mann ihr geschrieben hatte, ging hervor, dass er nicht wollte, dass seine Frau mitgeht in den Tod. Aber er wollte definitiv nicht, dass sie damit konfrontiert wird, dass er – aus seiner Sicht – todkrank ist. Er wollte sie nicht belasten. Das ist ihm gerade wegen des Suizids natürlich überhaupt nicht gelungen. Dieses Nicht-Belasten wollen ist ein ganz wichtiges Motiv, das Krebspatienten dazu bringen kann, Suizid zu begehen.
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Die Diagnose Krebs hat bis heute einen schrecklichen Klang, viele assoziieren Siechtum und Leiden damit. Spielt das auch eine Rolle?
Eindeutig ja. Wie gut oder schlecht jemand eine Krebsdiagnose verkraftet, kommt auch auf die Persönlichkeitsstruktur an und wie man gelernt hat, Krisen zu bewältigen. Zentrale Motive sind die Angst vor Schmerzen und davor, elend zugrunde gehen zu müssen. Sehr schwer zu ertragen sein können auch Defizite, die manche Patienten entwickeln. Lungenkrebskranke treibt häufig eine große Furcht vor dem Ersticken um, sie haben unter allen Krebspatienten das höchste Suizidrisiko. Katastrophal ist die Situation auch oft für Patienten, bei denen die Erkrankung offensichtlich ist – denen etwa Teile des Gesichts fehlen. Diese Menschen gehen oft nicht mehr auf die Straße und isolieren sich völlig. Wenn sie alleine leben, ist die Gefahr groß, dass sie Suizid begehen.
Sind Patienten mit einer schlechten Prognose besonders suizidgefährdet?
Es gibt einen Zusammenhang, allerdings keinen ursächlichen. Schlimm ist es oft, wenn Patienten Hoffnung gemacht wird, die Krankheit dann aber doch schnell fortschreitet. Oder wenn Ärzte allgemein nicht richtig aufklären und nicht offen sagen, mit welchen Nebenwirkungen die Patienten rechnen müssen. Diese stehen dann oft völlig unvorbereitet da mit ihren Problemen. Das Thema Aufklärung ist allgemein ein schwieriges. Gut wäre meiner Einschätzung nach eine an den Menschen angepasste und vor allem einfühlsame Aufklärung. Grundsätzlich können Krebspatienten in allen Phasen der Erkrankung in Krisensituationen geraten, wo kein anderer Ausweg mehr gesehen wird als der Tod. Oft wollen die Menschen einfach nicht mehr dieses Leiden ertragen müssen beziehungsweise die Vorstellung, dass sie leiden werden. Deshalb kann die Frage des Arztes nach der psychischen Belastung ihrer Patienten lebensrettend sein.
Ich höre aus alldem heraus, dass Sie schon mehrfach mit dem Thema Suizidgedanken von Patienten zu tun hatten.
Ich hatte das schon sehr häufig in der Klinik, von ganz akuten Situationen bis zu einem Dauerthema, das sich durch die ganze Zeit der Beratung gezogen hat. Eine Frau zum Beispiel kam über drei Jahre zu mir, weil ihr Ehemann sofort nach der Diagnose drohte, sich umzubringen, sollte er merkte, dass es ihm schlechter geht. Sie traute sich nicht, mit ihm darüber zu sprechen, wie sehr sie darunter gelitten hat. Ein offenesGespräch deckte die Ängste des Patienten auf, und es konnte ein gemeinsamer Weg gefunden werden.
Wie gehen Sie selbst damit um, wenn jemand davon spricht, sich selbst töten zu wollen?
Das Wichtigste ist, jede Äußerung sehr ernst zu nehmen. Und dann mache ich das Gegenteil von dem, was viele Ärzte machen. Ich sage nicht: „Das wird sicher bald besser werden, schauen Sie positiv in die Zukunft, Sie haben doch ganz gute Aussichten.“ Oder gar: „Sie müssen kämpfen.“ Kampf ist so ein Begriff, der im Zusammenhang mit Krebs sehr häufig gebraucht wird, den ich aber ganz schlimm finde, weil er mir zu oft mit Schuld verknüpft ist in dem Sinne: Der Patient, der stirbt, hat nicht genug gekämpft. Gruselig. Sondern ich frage genau nach, welche Gefühle und Gedanken den Menschen bewegen und warum jemand nur die Selbsttötung als Ausweg sehen kann. Zudem wird in der Uniklinik- wie in den meisten Kliniken- bei jedem Patienten, der suizidale Gedanken äußert und sich nicht davon „distanzieren“ kann, wie es im Fachjargon heißt, ein Kollege aus der Psychiatrie hinzugezogen. Auch werden die behandelnden Ärzte und Pflege informiert und man diskutiert gemeinsam, wie man den Patienten am besten unterstützen kann.
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Direkt gefragt: Haben Sie es schon erlebt, dass ein Patient oder eine Patientin Ihnen gegenüber Suizid angekündigt und dann auch begangen hat?
Ja. Ein Beispiel: Ein Onkologe rief mich einmal zu einer Patientin, einer über 80-jährigen Dame. Sie hatte während der Visite angekündigt, sich umbringen zu wollen. Sie wollte auf keinen Fall eine Psychoonkologin sehen und schon gar keinen Psychiater. Der Onkologe bat mich dennoch dringend, zumindest ein Gespräch zu versuchen. Ich bin dann vorsichtig an der Tür stehen geblieben. Ich sagte ihr, ich wolle sie mit nichts bequatschen, mich interessierten ihre Gedanken. Ich habe dann über zwei Stunden am Bett der Patientin gesessen. Es stellte sich heraus: Sie hatte schon einen Zweitkrebs, die erste Krebsdiagnose war jahrelang her. Und sie hatte sich schon damals damit beschäftigt, dass sie sich das Leben nehmen wolle, wenn die Krankheit sie so einschränken würde, dass sie qualvoll sterben und anderen zur Last fallen müsse. Sie wollte sich auf eine Weise töten, die keinen anderen mit einer problematischen Situation konfrontiert. Die Patientin wirkte auf mich sehr sortiert und psychisch nicht eingeschränkt. Sie wollte selbstbestimmt ihr Leben beenden und hat das auch getan. Für uns ist es wichtig herauszufinden, ob jemand eine behandlungsbedürftige psychische Störung hat, eine Depression oder eine Angststörung etwa. Beides kann man behandeln – und wenn das erfolgreich geschieht, ist Suizid kein Thema mehr.
Kann auch der Krebs selbst der Auslöser für eine psychische Erkrankung sein?
Ja. Ein beträchtlicher Anteil der Patienten, 30 bis 40 Prozent, entwickelt im Laufe der Erkrankung eine Depression oder eine andere psychische Störung.
Hat man schon untersucht, woran das liegt?
Dazu gibt es etliche gute Studien. Verschiedene Faktoren spielen eine Rolle. Etwa lebensgeschichtliche Aspekte, wenn jemand vorher schon einmal eine psychische Erkrankung hatte, alleine lebt, die finanzielle Situation schwierig oder jemand einsam ist, menschliche Unterstützung fehlt. Auch ein fortgeschrittenes Stadium und schwere Symptome begünstigen das Entstehen einer Depression oder Angststörung. Zudem können bestimmte Medikamente eine depressive Stimmung verursachen. Schlechte strukturelle Bedingungen in Kliniken und Praxen sowie eine schlechte Arzt-Patienten Beziehung können ebenfalls suizidale Krisen auslösen.
Wie waren Sie darauf vorbereitet, als Sie das erste Mal mit dem Thema Suizid konfrontiert wurden? Ist das Teil der Ausbildung?
Überhaupt nicht. Null. Selbst in einschlägigen Psychoonkologie-Büchern ist Suizidalität, wenn überhaupt, oft nur unter dem Stichwort Krisenintervention zu finden. Und dort gibt es dann auch nur fünf Sätze zu lesen.
Es klafft also eine große Lücke zwischen der psychoonkologischen Ausbildung und der Praxis.
Eine riesige. In der onkologischen Weiterbildung von Ärzten findet das Thema ebenfalls keinen Raum, ebensowenig in der Ausbildung von Pflegekräften, so jedenfalls das Resultat unserer Befragung. In der Umfrage haben das viele Teilnehmer beklagt. Einen Fortbildungsbedarf sahen mehr als 80 Prozent. Ich sehe es deshalb als Aufgabe an, das Thema in den Ausbildungen zu platzieren.
Was ist der Hintergrund dafür, dass die Suizidgefährdung von Krebspatienten in der Ausbildung ausgeklammert wird? Herrscht eine Art von Vogel-Strauß-Taktik vor?
Warum es in der psychoonkologischen Ausbildung nicht oder nur am Rande vorkommt, ist mir nicht verständlich. Gerade wir Psychoonkologen sollten hier Profis sein. Aber das Thema ist extrem kompliziert, da hier die eigenen Vorstellungen von dem, was ein lebenswertes Leben ist, ins Spiel kommen. Das zu diskutieren scheint mir ein Tabu zu sein. Aber Suizid ist ja allgemein ein Tabuthema und passt vielleicht noch weniger in einen Bereich, wo allseits das „Kämpfen“ bemüht wird. In der Medizinerausbildung herrscht der Anspruch vor: „Wir sind da, um zu retten und zu heilen“. Insbesondere unter Ärzten ist es sehr verbreitet zu denken, dass es allen Patienten ums Überleben geht, egal wie hoch die subjektiven Beeinträchtigungen sind. Das ist auch überwiegend so, aber eben oft auch nicht. Wenn ein Patient stirbt, wird das ganz häufig als persönliches Versagen empfunden. Da die Medizin – das ist ja bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar – meist so stark auf den körperlichen Zustand fixiert ist, wird die psychische Belastung oft unterschätzt oder gar nicht erkannt. Das kann fatale Folgen haben.
Wenn das Thema Suizid nicht Teil der Ausbildung ist, fühlen sich doch bestimmt auch viele auf juristisch unsicherem Boden, die mit solchen Gedanken von Patienten konfrontiert sind.
Es gibt eine große Unsicherheit in den juristischen Fragestellungen. Die meisten Teilnehmer der Befragung wünschten sich deshalb Fortbildung auf diesem Gebiet.
Was könnten schlimmstenfalls die juristischen Folgen sein?
Der Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung oder fehlenhaften Diagnostik. Davor haben viele Sorge, aber viele können gar nicht einschätzen, welches Verhalten welche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Auch aus diesem Grund plädiere ich dringend dafür, dass das Thema Suizidalität bei Krebspatienten Teil der Ausbildung wird.
Gibt es im Umgang mit suizidgefährdeten Patienten ein Richtig und ein Falsch? Muss das Ziel immer sein, jemand unbedingt abzubringen von diesem Gedanken?
Letzteres: nein. Aus meiner Perspektive gibt es aber ein sehr gravierend falsches Verhalten: psychische Belastung und Suizidgedanken von Krebspatienten nicht ernst zu nehmen. Im Gespräch sollte man die genauen Gründe herausfinden und versuchen, mit dem Patienten Perspektiven eröffnen. Schuldzuweisungen sollten unterbleiben und man sollte niemand moralisch unter Druck setzen. Schauen, was es konkret an Möglichkeiten gibt, damit es jemand besser geht. Manchmal ist es auch ein Hilfeschrei, dass man so nicht mehr leben will. Ich erinnere mich an einen Patienten, dem das halbe Gesicht fehlte, der eine Maske tragen musste, der durch absterbendes Gewebe einen sehr unangenehmen Geruch verbreitete. Er wollte mit dem Schmerz, der Entstellung und der Vereinsamung nicht mehr leben, aber nicht in erster Linie tot sein.
Die alte Dame, von der sie erzählt haben, ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Ist es legitim, das dann auch zuzulassen?
Ich hatte hier keinerlei Einflussmöglichkeit. Die Patientin war psychisch gesund, sie traf eine selbstbestimmte Entscheidung und diese konnte ich gut nachvollziehen. Mir war sehr klar, dass sie sich von mir nicht würde abhalten lassen. Aber bei dem Patienten mit dem entstellenden Tumor im Gesicht hätte ich ein Problem gehabt, wenn er sich das Leben genommen hätte. Er war sehr verzweifelt, hatte eine Depression und wollte nicht primär sterben. Hier muss alles getan werden, dass das Leben für ihn wieder lebenswerter wird. Das ist mit vereinten Kräften auch gelungen. Der Fall liegt vier Jahre zurück, und der Patient lebt mit einer für ihn akzeptablen Lebensqualität.
Gibt es eine Möglichkeit, vorzubeugen und das Suizidrisiko zu senken?
Mehr Wissen wäre ein guter Beitrag dazu. Eine wichtige Basis wäre es schon einmal, wenn alle anerkennen, dass die Diagnose Krebs für die meisten Menschen eine hohe psychische Belastung bedeutet, die im gesamten Krankheitsverlauf zu krisenhaften Situationen führen kann, die wiederum im Suizid münden können. Tatsächlich haben viele Patienten im Laufe ihrer Erkrankung einmal den Gedanken: „Wenn alles Stricke reißen, kann ich mich immer noch umbringen.“ Das hat auch viel mit dem Gefühl zu tun, das man dem medizinischen Prozedere ausgeliefert ist. Wir Menschen brauchen das Gefühl von Kontrolle über unser Leben. Der Gedanke, das Leid selbst beenden zu können, bedeutet Selbstbestimmung. Deshalb sehe ich es als ganz wichtig an, die Patienten in den Verlauf der Behandlung miteinzubeziehen, das stärkt sie und vermittelt ein Gefühl der Kontrolle. Eine gute Arzt-Patienten-Kommunikation kann definitiv das Risiko eines Suizids senken, das belegen auch die wenigen Studien, die es dazu gibt.
Interview: Pamela Dörhöfer