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Kindliche Bedürfnisse in Krisenzeiten

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Von: Susanne Gölitzer

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„Wir brauchen jetzt den Mut, die Schule nicht in den Zeitplan eines normalen Schuljahrs zu quetschen.“
„Wir brauchen jetzt den Mut, die Schule nicht in den Zeitplan eines normalen Schuljahrs zu quetschen.“ © Uli Deck/dpa

Je länger der Ausnahmezustand an Schulen anhält, umso wichtiger ist es eine wohlwollende Atmosphäre zu stiften – auch unter Befolgung von Hygieneregeln.

Anna und Marie aus der fünften Klasse fragen mich in der großen Pause, ob sie rüber in das andere Lernhaus gehen dürfen, da ihre Freundinnen aus dem vergangenen Schuljahr dort spielen und sie gerne etwas gemeinsam tun möchten. „Leider nicht“, antworte ich. „Ihr wisst ja, dass wir in der Schule im Moment Gruppen haben, die den Tag über zusammen lernen und spielen. Wegen Corona. Damit ihr euch nicht alle untereinander ansteckt.“ Sie schauen mich einen Moment lang an. Anna antwortet: „Okay, nicht so schlimm. Wir warten einfach bis nach der Schule um 14:15 Uhr.“

Ich lache, vielleicht müsste ich sie ermahnen. Aber warum eigentlich: Sie wollen miteinander etwas Schönes machen, etwas, was Kindern guttut. Sie wollen spielen und geben mir darüber aufrichtig Auskunft.

In Schulen werden Gruppen gebildet, damit das Infektionsgeschehen kontrollierbar bleibt, es werden Masken getragen, Zeiten verlegt, Abläufe angepasst. Viele Räume können nicht mehr wie gewohnt genutzt werden. Für die Beziehungsarbeit zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden ist die offene Begegnung, die Nähe beim Erklären, Üben, Diskutieren, Spielen, das Erleben von Mimik, Gestik und Sprache, die hinter der Maske oft nur noch genuschelt zu hören ist, wichtig und bedeutsam. Ganz aus fällt das gemeinsame Lesen auf dem Sitzsack, Tandemlesen, Spiele, bei denen sich Kinder und Jugendliche anfassen, die kuscheligen Chillzeiten der Pubertierenden. In der Mensa darf man sich kein Essen mehr teilen, Berührungen, Umarmungen und andere Vertraulichkeiten, die unter Kindern und Jugendlichen üblich und für Kinder und Jugendliche wichtig sind, sind in der Schule über Monate verboten. Die meisten Kinder und Jugendlichen machen das alles mit.

Wenn die Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit, den Sozialformen und der Zusammenkunft über einen längeren Zeitraum durchgehalten werden sollen von Kindern und Erwachsenen, die so viele Stunden am Tag miteinander verbringen, dann muss allen deutlich sein, warum dies geschieht. Aber nicht nur das. Es muss auch im Ausnahmezustand lustvolles Lernen und Spielen ermöglicht werden.

Wenn Räume aussehen wie Baustellen, deren gefährliche Ecken mit Absperrband abgetrennt werden, in denen Warnschilder hängen, die im Befehlston schriftliche Anweisungen geben, wenn die Erwachsenen nur noch ermahnen, „Zieh deine Maske an!“, schafft das keine angstfreie und angenehme Lernatmosphäre. Je länger der Ausnahmezustand unter Pandemiebedingungen anhält, umso wichtiger ist es aber, eine gelassene, freundliche und wohlwollende Atmosphäre zu stiften – auch unter Befolgung von Hygienevorschriften. Unsere erwachsene Verantwortung: Wir Erwachsenen können mit Kindern und Jugendlichen gemeinsam beraten, was zu tun und zu lassen ist, wie die Räume gestaltet werden müssen, damit man sich auch unter Corona noch wohlfühlt. Denn gerade unter Ausnahmebedingungen, die nicht schnell vorbei gehen, müssen Kinder und Jugendliche in der Schule ankommen, dürfen Ecken für sich besetzen und gemeinsam arbeiten und spielen.

An welchen Stellen man sich begegnen darf und gleichwohl vorsichtig sein kann und muss, müssen wir Erwachsenen mit ihnen erarbeiten. Kinder und Jugendliche erleben die Erwachsenen in dieser Zeit als unsicher, uneinig und häufig auch als genervt. Das muss nicht nur schlecht sein. Erklären wir ihnen doch immer wieder, wie komplex die Lage ist und welche Lösungen diskutiert werden. Lassen wir sie gemeinsam mit uns darüber nachdenken, welche Maßnahmen leicht- und welche ganz schwerfallen.

Die Aufgabe der Erwachsenen in einer solchen Situation ist zuallererst, deutlich zu machen, welchen Wert das Zusammensein und die schulische Bildung besonders in einer Krise hat. Die Diskussionen über den gesellschaftlichen Umgang mit einer Pandemie, die Besprechung wissenschaftlicher Befunde zu Erkrankungen, der Streit um den richtigen Umgang mit Krankheit, die politische Einordnung von gegensätzlichen Positionen – das alles und noch viel mehr sind vornehme Aufgaben der Schule. Deshalb müssen Schulen auch offenbleiben, sie sind einer der wenigen Orte, an denen alle gesellschaftlichen Schichten und Milieus zusammenkommen. Kinder und Jugendliche brauchen genau diese Erfahrungen, um mündige, verantwortungsvolle Bürgerinnen und Bürger zu werden. Sie brauchen die gemeinsame Zeit und den schönen, anregenden Ort mit Erwachsenen, die ihnen zur Seite stehen.

Die Öffnung der Schule hat aber einen Preis. Die Gruppen müssen verkleinert werden, damit die Räume genau das erfüllen können, was sie leisten müssen: ein vertrauter und anregender Raum zu sein. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Zeit, um die durch die Pandemie aufgerissenen Fragen mit Kindern und Jugendlichen zu thematisieren. Wir brauchen jetzt den Mut in der Bildungsverwaltung, die Schule nicht in den Zeitplan eines normalen Schuljahrs zu quetschen.

Susanne Gölitzer ist Autorin und Schulleiterin in Frankfurt.

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