Kinder mit Bildungsrisiken fördern. Aber wie?

Unterbliebene Investitionen in die Bildung kommen uns teuer zu stehen: ein Plädoyer für die Lern-Forschung. Ein Gastbeitrag.
Über Bildung wird viel geschrieben. Auch in dieser Zeitung. Das ist gut so, weil Bildungsteilhabe die Voraussetzung von allem ist. Gut vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden jährlich in Bildung investiert. Noch teurer als diese 130 Milliarden Euro kommen uns allerdings die unterbliebenen Bildungsinvestitionen zu stehen. Weil Bildung so wichtig ist, ist es auch gut, dass über die Qualität von Kita, Schule und Unterricht, über Bildungsarmut und über Bildungsungleichheiten diskutiert und gestritten wird: Unter Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen – und in der Bildungspolitik. Nun haben mehr als 60 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eines Frankfurter Forschungszentrums eine Bilanz der ersten sechs Jahre gemeinsamer Forschungsaktivitäten vorgelegt. Von A wie „Armut“ bis Z wie „Zweitspracherwerb“. Neue Forschungsergebnisse aus der Erziehungswissenschaft, der Psychologie, der Psychoanalyse, der Soziologie, den Neurowissenschaften, der Sprachwissenschaft und aus den Didaktiken der schulischen Unterrichtsfächer. Verbindendes Thema: Wie Kinder lernen und wie man ihnen dabei helfen kann. Es wäre ein eigenes Forschungsprojekt wert gewesen, die Zumutungen und Gelingensbedingungen transdisziplinärer Kooperationen zu analysieren. Am Ende haben sich ganz unterschiedliche Herangehensweisen als fruchtbar erwiesen. In allen Projekten sind Kinder im Alter zwischen drei und zwölf Jahren untersucht worden, die Bildungsrisiken aufweisen. Meist sind sie über eine längere Zeit begleitet worden. Entweder, um besser zu verstehen, wie aus Bildungsrisiken Bildungsprobleme oder Bildungsungleichheiten werden. Oder um Fördermaßnahmen zu erproben, die bei Lese-Rechtschreib- oder bei Rechenschwierigkeiten, bei sprachlichen Defiziten oder bei sozial-emotionalen Auffälligkeiten Abhilfe versprechen. In einigen Projekten waren die Eltern der Kinder oder das pädagogische Fachpersonal in die Studien einbezogen.
Familiäre Risikofaktoren wie ein geringes Bildungsniveau der Eltern oder Armutserfahrungen beeinträchtigen die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder bereits vor der Einschulung. Daneben gibt es individuelle Risikofaktoren, die unabhängig davon, aber auch in Kombination mit den familiären Faktoren auftreten –wie etwa unzureichende sprachliche Kompetenzen von Kindern oder ungünstige kognitive Lernvoraussetzungen. Der Migrationshintergrund ist zwar kein eigenständiger Risikofaktor, ist aber oftmals mit anderen familiären Risikofaktoren verknüpft. Die sprachlichen Defizite mehrsprachig aufwachsender Kinder sind meist anderer Art als die der monolingual aufwachsenden Kinder. Um Fehleinschätzungen zu vermeiden, müssen der spätere Erwerbsbeginn und die geringere Kontaktdauer mit der Zweitsprache Deutsch bei der Diagnostik berücksichtigt werden. Sonst werden die Kinder leicht überdiagnostiziert und erhalten eine Sprachtherapie, wo eine Sprachförderung ausreichend wäre. Dass es in Kindergärten oft nicht gelingt, die sprachlichen Defizite bis zum Schulanfang auszugleichen, liegt daran, dass wir noch viel zu wenig über die Wirksamkeit sprachlicher Fördermaßnahmen wissen. Es liegt aber auch an der Zusammensetzung der Kita-Gruppen: Die meisten türkischstämmigen Kinder besuchen einen Kindergarten mit einem sehr hohen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund und die meisten Kinder ohne Migrationshintergrund besuchen einen Kindergarten mit geringem Migrantenanteil.
Frühe Beziehungserfahrungen in der Familie schlagen sich in mehr oder weniger positiven Bindungsmustern nieder. Eine sichere Mutter-Kind-Bindung fördert die kognitive und die psychosoziale Entwicklung von Kindern. Bei einer ungünstigen Bindungsentwicklung können frühpräventive Maßnahmen im Vorschulalter zu einer größeren Bindungssicherheit führen. Solche Maßnahmen sind allerdings sehr aufwendig und erfordern eine hohe Professionalität des pädagogischen Personals. Kinder mit schulischen Lernstörungen profitieren von einer individuellen Förderung, die direkt an den beeinträchtigten Prozessen des Lesens, Schreibens oder Rechnens ansetzt. Im Falle der Lese-Rechtschreibstörung beispielsweise von einer Förderung der Buchstaben-Laut-Verbindungen oder von einer Förderung der Leseflüssigkeit. Weil viele Antworten der Frankfurter Forscherinnen und Forscher neue Fragen aufwerfen, ist die Bilanz nur eine Zwischenbilanz. Neue Projekte sind mittlerweile begonnen worden, um sie zu beantworten. Wie sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse konkret für die pädagogische Praxis nutzbar machen lassen, ist eine zusätzliche Frage. Erste Antworten dazu gibt es bereits.
Andreas Gold ist Professor für Pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt und Mitherausgeber des soeben erschienenen Buches „Entwicklungsverläufe verstehen – Kinder mit Bildungsrisiken wirksam fördern. Forschungsergebnisse des Frankfurter IDeA-Zentrums“.