Humboldt trifft Dschingis Khan
Dreißigtausend Mongolen sprechen Deutsch. Die Beziehungen sind alt, spielen beim Merkel-Besuch jedoch nur am Rande eine Rolle
Von Michael Billig
Der Bundesadler schwebt auf einem großen Plakat über den Jungen und Mädchen der Humboldt-Schule in Ulan Bator. Auf der Wand gegenüber steht in schwarz-rot-goldenen Lettern: „Deutsch macht Spaß“. Man könnte meinen, Angela Merkel war hier. Seit Mittwoch befindet sich die Bundeskanzlerin in der Mongolei. Einen Schulbesuch hat sie nicht geplant. Der Klassenraum sieht immer so aus, als könnte jeden Moment ein deutscher Staatsgast durch die Tür kommen.
Angela Merkel will mit der mongolischen Regierung ein Rohstoffabkommen schließen. Sie ist wegen der Bodenschätze nach Ulan Bator gekommen. Nicht wegen der Kinder, die eines Tages in Deutschland studieren wollen. Was man der Kanzlerin in Sachen Bildung aber vielleicht dennoch erzählen wird und was die Menschen in Ulan Bator vom einfachen Mann auf der Straße bis zum hochrangigen Politiker im Staatspalast stolz berichten: 30.000 Mongolen sind der deutschen Sprache mächtig. Das sind ein bis zwei Prozent der Bevölkerung – was außerhalb Deutschlands, Österreichs und der Schweiz einen Weltrekord darstellt.
Die Deutschkenntnisse stammen aus einer Zeit, in der ein Teil der heutigen Bundesrepublik noch als sozialistischer Bruderstaat galt. Tausende Mongolen haben in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, in Leipzig, Dresden und Ost-Berlin studiert. Heute nähren sie mit ihren Erinnerungen und Geschichten in ihren Kindern den Wunsch, sich im wiedervereinigten Deutschland ausbilden zu lassen. Das ist allerdings nur wenigen vergönnt.
Zezegmaa Gomosoren hat ihre Studienzeit in der DDR in guter Erinnerung. „Wir sind mit dem Zug nach Deutschland gefahren. Wir waren fünfzig, vielleicht sechzig Mongolen“, erzählt sie. Am Bahnhof in Berlin wurden die Bildungsnomaden von Vertretern der mongolischen Botschaft empfangen und auf das Bruderland verteilt. Zezegmaa Gomosoren verschlug es in die sächsische Kleinstadt Glauchau, um Textiltechnik zu studieren. Nach einem Jahr dort und drei Jahren in Forst (Lausitz) kehrte sie in ihre Heimat zurück. Sie sattelte noch ein Pädagogik-Studium drauf und begann dann als Lehrerin zu arbeiten. Heute ist die 45-Jährige an der Humboldt-Schule tätig. Ihre Tochter besucht dort die elfte Klasse.
„Viele Schüler sind die Kinder von Rückkehrern“, sagt Anne Schulte-Hillen, Fachberaterin und Koordinatorin für Deutsch an der deutschen Botschaft. Sie beschäftigt sich mit dem mongolischen Bildungswesen und weiß, dass es in Ulan Bator vier Schulen gibt, an denen Deutsch als Fremdsprache gelehrt wird. Die größte ist mit 1?100 Kindern eben jene Humboldt-Schule.
Humboldts Porträt hängt dort im Klassenraum gegenüber dem Bundesadler. Auf einer Wandzeitung wird er in fetten Großbuchstaben als „Held der Zeit“ bezeichnet. Dieser Held ist noch relativ neu. Bis vor zwei Jahren hieß die Schule, die heute seinen Namen trägt, schlicht Deutsche Schule. Die mongolischen Behörden führten sie gar nur als eine Nummer: Schule 38.
Doch es scheint so, als bräuchten die Mongolen derzeit Helden, denen sie nacheifern können. Der größte und älteste von allen ist Dschingis Khan, dessen Konterfei einem in der Hauptstadt fast überall begegnet, auch auf dem Wandteppich im Büro der Schuldirektorin. Die spricht erstaunlicherweise schlechter Deutsch als ihre Schüler.
16 Schüler sitzen in dem von nationalem Pathos aufgeladenen Unterrichtsraum. Die Mädchen tragen Blusen, die Jungen weiße Hemden. Beinah fließend erzählen sie sich, was sie in den vergangenen Tagen über die Staatsoberhäupter der Bundesrepublik gelernt haben. „Sie hat Physik studiert“, sagt eine Schülerin über Bundeskanzlerin Merkel. Alle wirken ziemlich fleißig.
Die Berichte der Eltern und die Symbole an den Wänden verfehlen ihre Wirkung offenbar nicht. Jeder in diesem Raum träumt von Deutschland. Auch Bayarmaa, die Tochter von Zezegmaa Gomosoren. Die 15-Jährige war jüngst schon einmal in dem Land, von dem ihr die Mutter so viel erzählt und Bilder gezeigt hat. Vier Wochen Deutschland, zwei Wochen davon an einer Schule in Mönchengladbach – das war ihr Preis für die erfolgreiche Teilnahme an einem Sprachwettbewerb. Ein glänzendes Foto zeigt sie mit anderen Jugendlichen vor dem Berliner Fernsehturm.
Der Alltag in der Mongolei sieht dagegen etwas trostlos aus. Mit ihrem kleinen Bruder, den Eltern und dem Großvater teilt sich Bayarmaa eine Jurte am äußersten Rand von Ulan Bator. Für eine Wohnung reicht das Einkommen der Familie nicht. Das Land ist reich an Rohstoffen, aber viele Menschen sind arm. Zezegmaas verdient als Lehrerin umgerechnet rund 150 Euro – nicht genug, um damit alle über die Runden zu bringen. So jobbt sie während der drei Monate Sommerferien noch als Touristenführerin. Ihr Mann, von Beruf Sportlehrer, schuftet in einer illegalen Kohlegrube. Ob sie ihrer Tochter damit ein Studium in Deutschland werden finanzieren können, ist mehr als fraglich. Bliebe nur ein Stipendium.
Doch da sind Deutschland und die Mongolei knauserig – zumindest im Vergleich zu den Chinesen, die innerhalb von fünf Jahren 2?000 Stipendien an ihre mongolischen Nachbarn verteilen. Der Deutsche Akademische Austausch Dienst (DAAD) lobt pro Jahr lediglich vier Stipendien aus. Daneben existiert ein bilaterales Programm, das Mongolen ein ganz bestimmtes Studium in Deutschland, konkret an der RWTH Aachen und der Bergakademie Freiberg, nahelegt. „Es muss etwas mit Bergbau zu tun haben“, sagt Ralf Heimrath, DAAD-Lektor in Ulan Bator. Der Rohstoffboom macht es möglich. Doch nur wenige kommen in den Genuss dieser Förderung.
Heimrath stellt dem mongolischen Bildungssystem insgesamt ein schlechtes Zeugnis aus. „Seit dem Ende des Sozialismus wurde daran nichts verändert“, sagt er. Derzeit verlassen junge Mongolen im Alter von 16 Jahren die Schule und streben direkt an eine Universität. Eine Berufsausbildung wie in Deutschland existiert nicht.
Und so verteilen sich rund 170?000 Studierende auf etwa 150 Hochschulen – und das in einem Land mit nur knapp 2,8 Millionen Einwohnern. „Was wir hier betreiben, ist gymnasiale Oberstufe“, sagt Heimrath über die Qualität der staatlichen Universitäten. Wer es bezahlen kann, wie etwa die politische Elite im Land, schickt seine Kinder erst auf eine Privatschule und dann zum Studieren nach Japan, Südkorea, in die USA. Oder eben nach Deutschland.