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Auch Humboldt irrte zuweilen

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Alexander von Humboldt war ein großer Entdecker und Wissenschaftler.
Alexander von Humboldt war ein großer Entdecker und Wissenschaftler. © Getty Images

Wissenschaftler untersuchen, wie zuverlässig die Daten des großen Forschers heute noch sind.

Kleiner Fund, große Wirkung: Als dänische Forscher im Sommer 2012 die Vegetation in den Anden untersuchen, stoßen sie noch in 5185 Metern Höhe auf Gefäßpflanzen: ein Felsenblümchen (Draba) und blühende Korbblütler der Art Pentacalia hillii. Das Besondere daran: Die Pflanzen wachsen am Südosthang des Vulkans Chimborazo, dem mit knapp 6300 Metern höchsten Berg von Ecuador. Genau dort, so schreiben die Forscher später im Fachblatt „PNAS“ („Proceedings of the National Academy of Sciences“), habe Alexander von Humboldt (1769-1859) 1802 die Höhengrenze für Gefäßpflanzen in 4600 Metern verortet. Die Verschiebung der Höhengrenze binnen 210 Jahren um weit über 500 Meter zeige, wie sensibel Pflanzen auf den Klimawandel reagierten, folgert das Team um Naia Morueta-Holme von der Universität Aarhus.

Dass der Klimawandel Pflanzengesellschaften in die Höhe getrieben hat, ist unbestritten – aber um über 500 Meter? Den Einwand eines Prager Botanikers, der das Ergebnis öffentlich anzweifelt, weisen die Autoren in einer „PNAS“-Replik entschieden zurück. Schließlich gilt Humboldt als detailversessen, beim Sammeln bestimmte er gewöhnlich auch die Höhe der Funde.

„Humboldts Tableau und die begleitenden Beschreibungen bilden den ältesten bekannten Datensatz zur Vegetation in Abhängigkeit von der Höhe“, erklärte Studienleiter Jens-Christian Svenning damals. „Das bot uns die einmalige Gelegenheit zu untersuchen, wie sich Pflanzenverteilungen in den Tropen während der letzten beiden Jahrhunderte verändert haben.“

Humboldt und der französische Botaniker Aimé Bonpland hatten von 1799 bis 1804 weite Teile Amerikas erforscht. Dabei sammelten sie unter anderem etwa 6000 Pflanzenarten, von denen 3600 noch unbekannt waren. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte Humboldt 1807 das Buch „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer“. Das Tableau Physique (TP), so die französische Originalbezeichnung des Naturgemäldes, zeigt stark schematisiert die Verteilung der Vegetationszonen am Chimborazo. Versehen mit Pflanzennamen, ausgestattet mit Höhenlinien und eingerahmt von Tabellen, etabliert das Schaubild das Konzept der Höhenstufen und der Pflanzengeographie. Humboldt selbst zählt die Karte gegen Ende seines Lebens zu seinen wichtigsten Erkenntnissen – neben den Isothermen und seiner Forschung zum Erdmagnetismus.

Die Karte sei „ein ikonischer Meilenstein, fast ein Gründungsmythos, in der Geschichte der Ökologie und Biogeografie“ und habe Generationen von Künstlern und Historikern beeinflusst, schreiben nun Forscher um Pierre Moret von der Universität Toulouse, ebenfalls im Fachblatt „PNAS“. Umso überraschender sei, dass der Inhalt nie wissenschaftlich überprüft worden sei. Das holte das Team nun akribisch nach – und stößt auf einige Ungereimtheiten. Die Resultate, die im Humboldt-Jahr zum 250. Geburtstag des Forschers erscheinen, geben Einblick in Humboldts Arbeitsweise – und auch in die heutige Welt der Wissenschaft.

Beispiel Pflanzengruppen: In dem Schaubild von 1807 verortet Humboldt in über 3900 Metern Höhe noch 17 Pflanzengruppen. In späteren Werken ergänzt er dies. In einem Buch von 1817 sind es 23 Gruppen, 1824 schließlich 32. Nur eine Pflanzengattung – die Enziane (Gentiana) – tauche in allen drei Listen auf, schreiben Moret und Kollegen.

Beispiel Höhenangaben: Die Höhenangaben von 1807 und in späteren Veröffentlichungen weichen den Forschern zufolge teils um mehr als 1000 Meter voneinander ab. 1807 nennt Humboldt 4600 Meter als Obergrenze für Gefäßpflanzen. Aus späteren Veröffentlichungen geht dagegen hervor, dass Humboldt und Bonpland solche Pflanzen an diversen Bergen noch in wesentlich größerer Höhe fanden: in 4678 Metern am Pichincha, in 4732 Metern am Nudo de Azuay, vor allem aber in 4860 Metern am Vulkan Antisana. „Diese Resultate zeigen, dass einem Teil der im TP veröffentlichten Daten in späteren Veröffentlichungen widersprochen wurde“, betonen die Autoren.

Beispiel Vegetationszonen: In der Karte von 1807 folgen auf alpine Tropenpflanzen (3500 bis 4100 Meter) zunächst Gräser (4100 bis 4600 Meter) und dann Flechten (4600 bis 4795 Meter). Allerdings sei weder die Abfolge zuverlässig noch die Höhen, bemängeln Moret und Kollegen – und weisen darauf hin, dass Humboldt später auch diese Angaben korrigiert habe.

Abschließend liefern die Forscher eine Erklärung für den vom dänischen Team berichteten Höhenunterschied von über 500 Metern. Aus Bonplands Aufzeichnungen gehe hervor, dass der Botaniker und Humboldt die meisten alpinen Pflanzen nicht am Chimborazo gesammelt habe, sondern viel weiter nördlich am Antisana. An diesem 5750 Meter hohen Vulkan verglich das Team die damalige, von Bonpland und Humboldt notierte Höhe der Pflanzen mit dem heutigen Bewuchs. Demnach beträgt der Höhenunterschied seit Humboldts Besuch etwa 250 Meter – also nur die Hälfte des zuvor gefundenen Unterschieds. Dieser Wert decke sich mit weltweiten Veränderungen der Vegetationszonen in den vergangenen 200 Jahren, schreiben die Wissenschaftler.

„All das zeigt, dass das TB eine schematische Darstellung war, die einem Teil der Beobachtungen im Feld so sehr widersprach, dass Humboldt tiefgreifende Änderungen in zwei späteren Publikationen zur Pflanzengeografie einführte“, folgern sie. Wegen der Ungenauigkeiten, so die Forscher, könne man aus der Karte nicht ohne Weiteres Veränderungen durch den Klimawandel ableiten.

„Diese Studie zeigt, wie wichtig es ist, historische Quellen kritisch zu analysieren und im Kontext ihrer Zeit zu sehen“, sagt Ulrich Päßler, der an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu Humboldt forscht. „Die Karte zeigt eine schematische Darstellung des Querschnitts der Anden. Sie ist eine Abstraktion, und das war Humboldt vollkommen bewusst.“

Als naturgetreue Darstellung der Verhältnisse am Chimborazo war die Karte ohnehin nie gedacht. Humboldt selbst betonte 1807 im Untertitel des Buchs, sie beziehe sich auf die Pflanzengesellschaften der Anden im Äquatornähe, zwischen den beiden zehnten Breitengraden. Zudem räumte er ein, die Daten seien vorläufig und vervollkommnungsfähig. Diese Ergänzungen holte er später nach, unterstützt von seinem Assistenten Carl Sigismund Kunth.

„Die Arbeiten von Humboldt enthalten Daten aus einer sehr frühen Zeit, die für die Erforschung von Klimawandel und Artenvielfalt wichtig sind“, sagt der Humboldt-Experte Tobias Kraft von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. „Wir können diese Daten nur im Kontext ihrer Quellen – also Humboldts Reisetagebüchern und Notizen – richtig einordnen. Dafür schaffen wir derzeit an der Akademie die Grundlage.“

Dass es sich bei der Karte um eine starke Schematisierung handele, zeige schon ein flüchtiger Blick, betont Kraft. Denn darin verortet Humboldt direkt neben dem Chimborazo den Vulkan Cotopaxi – der tatsächlich rund 80 Kilometer entfernt ist.

Aber warum wählte der Naturforscher ausgerechnet den Chimborazo für seine Darstellung, wenn doch die meisten Proben vom Antisana stammten? Humboldt habe bewusst den „majestätischsten“ aller Berge, wie er selbst schrieb, gewählt, erläutern Moret und Kollegen. Zudem hatte er dort bei seinem Besteigungsversuch – nach eigener Darstellung – mit 5878 Metern den damaligen Höhenrekord aufgestellt. Auch Päßler betont, Humboldt habe sich gerne vor dem Chimborazo – der damals als höchster Berg der Welt galt – abbilden lassen.

Die Leistung Humboldts sehen Moret und Kollegen nicht geschmälert. Die Karte biete den ältesten historischen Datensatz mit Höhenangaben zu Gebirgspflanzen, bilanzieren sie. Sie enthalte Fehler, die Humboldt in späteren Werken korrigiert habe. „Aber nur die erste Karte (...) ist im kollektiven Gedächtnis der Geo- und Biowissenschaften als bahnbrechendes Erbe geblieben“, betonen die Forscher. „Diese Fehler wurden nicht nur aufgewogen durch die neue Botschaft eines Schaubildes, das die wegweisende Idee der Vernetztheit aller biotischen und abiotischen Phänomene verkörperte, sondern niemand bemerkte sie – so groß war die Kraft dieses faszinierenden Bildes.“

Humboldt selbst scheint diesbezüglich sein schärfster Kritiker gewesen zu sein. Darauf deutet ein 1824 verfasster Brief an seinen Verleger Johann Friedrich Cotta über die „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer“ hin: „Von dem alten Werke ist nichts mehr wahr als das allgemeine.“ (Walter Willems, dpa)

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