Gründliche Aufklärung tut not

In seltenen Fällen kann das Spenden einer Niere Fatigue auslösen.
Wie riskant ist es, zu Lebzeiten eine Niere für einen anderen Menschen zu geben? Gefährlicher als viele denken, mahnt Ralf Zietz. Der Vorsitzende der Interessensgemeinschaft Nierenlebendspende (IGN) hat selbst im Jahr 2010 seiner Frau eine Niere gespendet und beklagt seitdem schwere Beeinträchtigungen: Seine Nierenfunktion ist stark eingeschränkt, auch leide er unter dem Chronischen Fatigue-Syndrom, einer Art Dauererschöpfung, die inzwischen auch von Long-Covid-Erkrankten berichtet wird. Zietz wirft den damals behandelnden Ärzten Mängel bei der Aufklärung vor und streitet seit Jahren vor Gericht um finanzielle Entschädigung.
Der Verein IGN ist über die Jahre zur Interessenvertretung gesundheitlich beeinträchtigter Lebendspender:innen geworden: Von den gut 50 Mitgliedern, so Zietz im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau, seien gut 30 ähnlich betroffen wie er. Die IGN berät Betroffene und unterstützt Klagen kranker Spender:innen. In der Debatte um die Lebendspende fordert sie deutlich strengere gesetzliche Regelungen zum Ausschluss bestimmter Spendergruppen. Kritiker:innen werfen dem Verein vor, die Risiken einseitig zu dramatisieren und dem Vertrauen in das Organspendesystem zu schaden.
Wer eine seiner zwei Nieren spendet, verhilft einem schwerstkranken Menschen, wenn alles klappt, zu einem fast normalen und längeren Leben. Allerdings verliert, wer spendet, selbst im Durchschnitt auf Dauer etwa 30 Prozent der vorherigen Nierenleistung. Bei den allermeisten Nierenspender:innen ist das kein Problem, denn eine verbleibende gesunde Niere kann genug filtern und entgiften. Anders kann es sein, wenn die Nierenleistung, wie bei Zietz, schon vor der Spende grenzwertig ist. Nicht geklärt ist, warum einige Spender:innen in der Folge an Fatigue leiden, also deutlich weniger belastbar sind. Das Syndrom geht mit der Zeit zurück, einer Studie von 2019 zufolge klagen aber gut 15 Prozent der Spendenden auch zwei Jahre nach der Nierenentfernung noch darüber.
Grundsatzurteil des BGH
Überkreuzspende
Spanien gehört zu den Ländern, die auf langjährige Erfahrungen mit der Crossover-Spende zurückblicken. Das Programm wurde dort 2009 ins Leben gerufen. Bisher bekamen auf diesem Weg mehr als hundert Schwerkranke eine neue Niere. Es handelt sich dabei um eine Art Nierentausch zwischen zwei oder mehreren Spender-Empfänger-Paaren. Voraussetzung zur Teilnahme eines Paares ist, dass die Niere der spendewilligen Person etwa wegen Gewebeunverträglichkeiten nicht geeignet ist für ihre kranke Partnerin beziehungsweise den kranken Partner oder Angehörigen.
Nach Angaben der zentralen spanischen Transplantationsorganisation (ONT), die dem Gesundheitsministerium unterstellt ist, nehmen im ganzen Land 23 Zentren an dem Programm teil. Die beteiligten Paare werden parallel in verschiedenen Zentren operiert, was ein großer logistischer Aufwand ist.
Transplantationen über Kreuz nehmen laut ONT zu, sie machen inzwischen elf Prozent aller Lebendspenden aus. Dabei spielen auch sogenannte „Samariter“-Spenden eine Rolle, bei denen jemand anonym eine Niere spendet. Sie sind in Spanien erlaubt. rü
Zietz hat zusammen mit einer weiteren Spenderin 2019 ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs (BGH) erstritten: Darin wird beiden bescheinigt, dass die ärztliche Aufklärung in ihren Fällen mangelhaft war. Das Argument der Klinik und der beteiligten Ärzt:innen, die beiden Spendewilligen hätten auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung einer Organentnahme zugestimmt, wischt der BGH vom Tisch: Eine „hypothetische Einwilligung“ sei im Transplantationsgesetz nicht vorgesehen. Vielmehr seien hier die Aufklärungsanforderungen bei der Nierenlebendspende mit Absicht streng formuliert, denn sie „sollen den potenziellen Organspender davor schützen, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen“.
Der BGH verwies beide Fälle zurück an das Oberlandesgericht (OLG) Hamm. Die Klägerin erhält im Rahmen eines Vergleichs 100 000 Euro, Zietz’ Verfahren läuft noch. Der IGN-Vorsitzende hat sein Leben völlig umgestellt: Früher hat er zwei Firmen geleitet, nebenbei noch ein Zweitstudium abgeschlossen und sich viel um die vier Kinder gekümmert, da seine Frau krank war. Heute könne er trotz chronischer Müdigkeit vormittags einige Stunden arbeiten, „nachmittags kommt dieser Gehirnnebel und häufig eine totale Erschöpfung“. Zietz gilt als 40 Prozent erwerbsgemindert.
Potenzielle Spender:innen werden vor einer Organspende gründlich medizinisch gecheckt und bei bestimmten Vorerkrankungen von den Kliniken nicht zugelassen. Eine Ethikkommission prüft außerdem, ob sie aus freien Stücken eine Niere geben wollen. Auch Lebendspende-Kritiker Zietz räumt ein: Die Aufklärung sei teils besser geworden. Das aber reicht dem Verein nicht aus. Bei einem Symposium des Bundesgesundheitsministeriums im Sommer 2021 über Erleichterungsmöglichkeiten bei der Lebend- und Crossover-Spende setzte Zietz mit restriktiven Forderungen den Kontrapunkt: Der Gesetzgeber müsse das Mindestalter für Lebendspenden auf 50 Jahre anheben und bestimmte Gruppen pauschal von der Spende ausschließen, etwa chronisch Kranke, Alleinerziehende und Alleinverdiener:innen. Spendewillige sollten nachweisen müssen, dass sie finanziell abgesichert sind. Auch müsse die natürlich gewachsene emotionale Nähe von Spender-Empfänger-Paaren Voraussetzung sein. Deshalb lehnt die IGN Crossover-Spenden und anonyme Spenden ab.
Aber wo bleibt bei so viel staatlicher Reglementierung und Vorauswahl die Entscheidungsfreiheit der einzelnen Menschen? Dem hält Zietz seine Erfahrungen mit Betroffenen entgegen: Viele von ihnen seien „gar nicht in der Lage, eigenverantwortlich über eine Spende zu entscheiden. Sie stehen oft unter sozialem Druck und sind emotional viel zu belastet.“
Einer, der das ganz anders sieht und das, ähnlich wie viele andere, auch auf dem Berliner Symposium vertreten hat, ist Thomas Gutmann, Professor für Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Uni Münster. Er fordert, die Begrenzung des Nierenlebendspender-Kreises auf Menschen, die mit den Kranken eng verbunden sind, ersatzlos aus dem Gesetz zu streichen. Denn dass eine Spendeentscheidung freiwillig erfolge, sei im engsten Familienkreis keineswegs sicherer als außerhalb. Gutmann zufolge ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein Freiheitsrecht, dem Staat stehe es nicht zu, „erwachsene, aufgeklärte Lebendspender vor sich selbst zu schützen“. Er fordert, auch Crossover-Lebendspenden und anonyme, altruistische Organspenden freizugeben.