Ein Gefühl von Natürlichkeit

Nutzen und Risiken "bio-identischer" Hormone sind umstritten.
Hitzewallungen, Schlaflosigkeit, trockene Haut, Reizbarkeit: alles unangenehme Begleiterscheinungen, unter denen Frauen in den Wechseljahren mehr oder weniger stark leiden können. Eine Hormonersatztherapie vermag Abhilfe zu schaffen und die Beschwerden zu mindern. Doch seit die „Women’s Health Initiative“-Studie (WHI) 2002 vor schweren gesundheitlichen Risiken wie Brustkrebs oder Schlaganfall warnte, scheuen viele Ärzte die Verordnung und Frauen die Einnahme von Hormonpräparaten.
Zwar stellt die seit wenigen Monaten vorliegende Langzeitauswertung der WHI-Studie die damalige Interpretation der Daten in Frage und gibt in vieler Hinsicht Entwarnung: So starben die Teilnehmerinnen mit Hormonersatztherapie nicht früher als die anderen Probandinnen; nicht einmal an Brustkrebs, obwohl ein erhöhtes Risiko für diese Erkrankung durch die Einnahme von Östrogen-Gestagen-Kombinationspräparaten nach wie vor im Raum steht. Viele Frauen jedoch fürchten sich freilich vor allem vor Brustkrebs als Folge einer Therapie oder haben ein unbestimmt ungutes Gefühl, „synthetische“ Hormone zu schlucken.
Seit einigen Jahren erfreuen sich vermutlich auch aus diesem Grund sogenannte bio-identische Hormone zunehmender Beliebtheit: Sie vermitteln dein Eindruck von „Natürlichkeit“ und werden von Ärztinnen und Ärzten, die sie als Therapie anbieten, denn auch als sanftere und in der Konsequenz risikoärmere Alternative zu konventionellen Produkten propagiert. Aber sind sie das wirklich? Unter Medizinern herrscht in dieser Frage keine Einigkeit.
Auch bei der Jahrestagung der Deutschen Menopause Gesellschaft am vergangenen Wochenende in Frankfurt wurde das Thema kontrovers diskutiert. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff bio-identische Hormone überhaupt? Sie sind nicht zu verwechseln mit Phytohormonen, Substanzen aus Pflanzen, denen eine hormonähnliche Wirkung zugeschrieben wird. Zu ihnen zählen unter anderem die Isoflavone, die in Soja, Rotklee oder Yamswurzel enthalten und Bestandteil etlicher freiverkäuflicher Präparate sind. Einig scheinen sich die Mediziner in der Skepsis gegenüber diesen Produkten. Ihre Wirksamkeit sei nicht nachgewiesen, hochdosiert „mit Vorsicht zu genießen“, sagt Joseph Neulen, Direktor der Klinik für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin an der Uniklinik Aachen.
Bio-identische Hormone werden auch aus solchen Phytohormonen hergestellt. Das ist keine Erfindung neuerer Zeit, bereits der Chemiker Carl Djerassi nutzte für die erste Antibabypille Substanzen der Yamswurzel. Im Gegensatz zu industriell gefertigten Hormonpräparaten werden bio-identische Hormone jedoch in den meisten Fällen nach einem Arztrezept in einer individuellen Mischung von Apothekern hergestellt. Befürworter sprechen deshalb gern von einer „maßgeschneiderten“ Dosierung, die in der Regel weit unter der einer herkömmlichen Hormonersatztherapie liegt.
Hildegard Faust-Albrecht, niedergelassene Frauenärztin und Homöopathin aus Unterhaching, arbeitet seit vier Jahren in ihrer Praxis mit bio-identischen Hormonen, das Konzept dafür habe sie zusammen mit ihren Patientinnen entwickelt, erzählt sie. Den entscheidenden Vorteil sieht sie darin, dass sich die „einzelnen Komponenten sinnvoll anpassen“ ließen und die Wirkung „besser steuerbar“ sei; so könnten die Hormone oft jahrzehntelang eingenommen werden. In fertigen Arzneimitteln sei insbesondere der Östrogen-Anteil „oft deutlich zu hoch“, sagt die Medizinerin.
Welche Hormone in welcher Konzentration eine Patientin benötigt, wird bei der Therapie mit bio-identischen Hormonen aus dem Blutserum ermittelt; daneben gibt es auch Speicheltests, deren Zuverlässigkeit von Experten aber deutlich angezweifelt wird. Herkömmliche Kombinationspräparate zur Behandlung von Wechseljahrsbeschwerden enthalten Anteile der beiden weiblichen Geschlechtshormone Östrogen und Gestagen. Neben Östradiol als Östrogenkomponente und Progesteron als Vertreter für die Gestagene gibt Hildegard Faust-Albrecht manchmal auch das männliche Sexualhormon Testosteron (es soll bei Libidoverlust helfen) sowie DHEA, ein Vorläuferhormon männlicher und weiblicher Sexualhormone, das in den 1990er Jahren als angebliches Anti-Aging-Mittel Schlagzeilen machte. Joseph Neulen indes hegt grundsätzliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer Gabe von DHEA. Studien hätten gezeigt, dass eine Verabreichung bei Frauen keinen Effekt zeige. Hildegard Faust-Albrecht setzt mit ihrer Therapie indes nicht allein auf eine Hormonzufuhr von außen. Sie geht davon aus, dass sich auf diese Weise auch die Eierstöcke anregen ließen, „selbst wieder etwas zu tun“ und Hormone zu bilden. „Stimulierung statt Ersatz“ nennt die Gynäkologin das. Ein Effekt, den Kongresspräsident Peyman Hadji, gynäkologischer Endokrinologe aus Frankfurt und Mitglied im Vorstand der Deutschen Menopause Gesellschaft, allerdings „stark anzweifelt“.
Hormone – bio-identische ebenso wie von der Industrie hergestellte – lassen sich heute in verschiedenen Formen verabreichen. Es gibt sie als Tablette, Creme, Gel, Spray, Pflaster oder als Kapsel zum Einführen in die Vagina. Hildegard Faust-Albrecht setzt in ihrer Praxis auf die transdermale Therapie, bei der ein Stoff über die Haut in den Körper gelangt. So ließen sich die Hormone viel niedriger dosieren, sagt die Ärztin. Die einzelnen Bestandteile werden dabei getrennt aufgetragen. Das Progesteron etwa kommt auf die Innenseite der Unterarme, weil die Haut dort unbehaart ist.
Ein Knackpunkt, der Kritiker auf den Plan ruft. Sie monieren, dass Progesteron nur oral und nicht über die Haut ausreichend vom Körper aufgenommen werden kann. Joseph Neulen schätzt deshalb die Wirkung des auf den Arm applizierten Progesterons als „inkonsistent“, also nicht beständig, ein. Eine zuverlässige Wirkung könne nicht garantiert werden, unklar sei zudem der Effekt auf die Gebärmutter.
Dieser Aspekt ist von elementarer Bedeutung: Denn wenn eine Frau bei einer Hormontherapie nur Östrogen und nicht ausreichend Gestagen zu sich nimmt, könnte das im schlimmsten Fall fatale Folgen nach sich ziehen, warnt Peyman Hadji: „Unter einer reinen Östrogentherapie steigt das Risiko, an Gebärmutterkrebs zu erkranken.“ Der Grund: Östrogen sorgt dafür, dass sich die Gebärmutterschleimhaut aufbaut; während des natürlichen Zyklus‘ dient das der Vorbereitung auf die Einnistung einer befruchteten Eizelle. Damit die Schleimhaut nicht unbegrenzt weiter wächst, müsse als Gegenspieler ein Gestagen zugefügt werden. Reine Östrogenpräparate dürfen deshalb nur Frauen nehmen, denen vorher wegen einer Erkrankung die Gebärmutter entfernt wurde.
Hildegard Faust-Albrecht allerdings geht fest davon aus, dass sich Progesteron in Form eines Gels von unbehaarten Hautstellen in ausreichender Menge aufnehmen lässt. Das bestätigten auch regelmäßige Kontrolluntersuchungen, bei denen der Hormonspiegel der Patientinnen festgestellt werde, sagt die Frauenärztin. Auffälligkeiten oder gar bösartige Tumore der Gebärmutter habe sie in ihrer Praxis nicht gehäuft feststellen können.
Insgesamt geht die Gynäkologin aus Bayern davon aus, „fast hundert Prozent“ ihrer Patientinnen helfen zu können. Die Resonanz auf die Therapie mit bio-identischen Hormonen sei „riesig“, das habe auch ein Blog im Internet gezeigt.
Joseph Neulen kann die Begeisterung sogar nachvollziehen – allerdings nicht aus medizinischen Gründen. Die individualisierte Therapie mit bio-identischen Hormonen vermittle Frauen ein Gefühl der „Selbstbestimmung“ – „da wird ein Medikament extra für mich hergestellt“ – und Sicherheit, sagt er: kein Beipackzettel, auf dem abschreckende Nebenwirkungen aufgeführt seien.
Doch gerade die Sicherheit werde bei individuell zusammengestellten Mischungen nicht ausreichend überprüft, moniert der Aachener Mediziner. Die Arzneimittel von Pharmaunternehmen müssten zahlreiche klinische Studien durchlaufen, ergänzt Peyman Hadji. Die von Apothekern nach Arztrezept hergestellten Hormonpräparate hingegen unterlägen keiner systematischen Kontrolle.
Der Frankfurter Gynäkologe sieht überdies die ganze Begrifflichkeit der bio-identischen Hormone in Abgrenzung zu den „synthetischen“ Hormonen als problematisch an. Auch die in den handelsüblichen Produkten verwendeten Hormone seien bio-identisch sagt er: „90 Prozent der in Europa marktüblichen Präparate enthalten als Östrogenkomponente 17-beta-Östradial. Das entspricht exakt der Stukturformel des von Frauen selbst produzierten Östrogens. Es ist das identische Molekül.“ Für die zweite Komponente stehen verschiedene Gestagene zur Auswahl. Viele moderne Präparate setzten auf Progesteron, das ebenfalls mit dem natürlichen Hormon identisch sei, sagt Hadji. Auch bei Dosierung und Darreichungsform gebe es heute großen Spielraum. Die bei der Therapie mit bio-identischen Hormonen eingesetzten Mengen schätzt der Frankfurter Mediziner allerdings als „oft viel zu niedrig“ ein.
Für welche Form der Therapie sich eine Frau entscheidet, hängt indes noch von anderen Kriterien als medizinischen Gesichtspunkten und persönlichen Vorlieben ab: Eine konventionelle Hormonersatztherapie bei behandlungsbedürftigen Wechseljahrsbeschwerden wird von allen Krankenkassen bezahlt. Private Krankenkassen übernehmen meist auch die Kosten für eine Therapie mit bio-identischen Hormonen. Zwar tun das gesetzliche Versicherer bei Vorliegen eines Kassenrezepts in vielen Fällen ebenso; garantiert ist das allerdings nicht.