Erreger in Milch und Rindfleisch begünstigen Entstehung von Krebs

Medizinnobelpreisträger Harald zur Hausen und sein Team entdecken bislang unbekannte Auslöser chronischer Entzündungen.
Wissenschaftler um Nobelpreisträger Harald zur Hausen haben eine neuartige Klasse von Erregern identifiziert, die im Verdacht stehen, vor allem beim Entstehen von Dickdarm- und Brustkrebs beteiligt zu sein. Bei diesen bislang unbekannten Erregern handelt es sich nicht um Viren, Bakterien oder Parasiten, sondern um einzelsträngige ringförmige Erbgut-Elemente. Die Forscher haben sie „Bovine Meat and Milk Factors“ (BMMFs) genannt – nach ihrem Auffindungsort. Denn entdeckt wurden die Erreger in Rindfleisch und Kuhmilch. Harald zur Hausen geht davon aus, dass sich Menschen bereits in frühester Kindheit mit BMMFs infizieren, was eine chronische Entzündung und nach Jahrzehnten Krebs auslösen kann. Die Wissenschaftler stellten ihre Ergebnisse am Dienstag im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg vor.
Harald zur Hausen beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Rolle von Infektionen bei der Krebsentstehung und hegt schon lange den Verdacht, dass der Verzehr von Rindfleisch und Kuhmilch bestimmte Tumore begünstigt. 2008 hatte der heute 83-Jährige den Medizinnobelpreis für seine Entdeckung erhalten, dass humane Papillomviren Gebärmutterhalskrebs auslösen können. Bisher sei man davon ausgegangen, dass weltweit etwa 20 Prozent aller Krebserkrankungen mit Infektionen zu tun haben, sagt zur Hausen. Zähle man die mutmaßlich von BMMFs beeinflussten Fälle hinzu, käme man auf 50 Prozent.
Zur Hausen geht davon aus, dass diese Erreger bei „75 bis 80 Prozent“ aller Dickdarmkarzinome eine Rolle spielen. Als Risikofaktoren für diese Krebsart sind starkes Übergewicht, Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum, eine genetische Disposition und ein höheres Lebensalter bekannt. Zuletzt rückte auch zunehmend das Mikrobiom – die Gesamtheit der Mikroorganismen im Darm – in den Fokus.
Ausgangspunkt der Forschungsarbeit waren Beobachtungen, dass es einen „erstaunlichen Zusammenhang“ beim Auftreten von Dickdarm- und Brustkrebs und dabei eine Korrelation mit dem Konsum von Milch- und Fleischprodukten des europäischen Rindes gebe, erzählt zur Hausen. „Überall, wo europäische Milchrinder gehalten und verzehrt werden, sind beide Krebsarten häufig – und umgekehrt.“ Besonders häufig kämen Dickdarm- und Brustkrebs in Nordamerika, Argentinien, Europa und Australien vor. Niedrig sei die Zahl der Neuerkrankungen hingegen in Bolivien, der Mongolei und Indien. In Bolivien und der Mongolei essen die Menschen zwar viel Fleisch, doch es stammt in erster Linie von Zebus, nicht vom europäischen Rind. In Indien wird kein Rindfleisch gegessen, allerdings steige in Bundesstaaten, wo Milchkühe eingeführt wurden, um die Versorgung der Kinder sicherzustellen, die Rate der Brustkrebs-Neuerkrankungen, erklärt zur Hausen. In Japan sei rund 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und in Korea 20 Jahre nach dem Korea-Krieg parallel zu den wachsenden Importen und der zunehmenden Produktion von Fleischwaren die Zahl der Darmkrebsfälle gestiegen. Auffällig auch: Frauen mit Laktose-Intoleranz bekommen seltener Brustkrebs.

Die Wissenschaftler hatten zunächst die Idee, dass Viren die Ursache sein könnten. Um dem auf die Spur zu gehen, untersuchten sie 130 Blutseren europäischer Rinder und zahlreiche Proben von Milch und Milchprodukten aus dem Supermarkt, erzählt
Ethel-Michele de Villiers, ehemalige Leiterin der Abteilung Tumorvirus-Charakterisierung am Deutschen Krebsforschungszentrum. Zudem wurden Hunderte Blutproben von gesunden Menschen und Patienten mit Darmkrebs analysiert. „Es war eine Detektivarbeit“, sagt de Villiers.
Was die Forscher fanden, war allerdings kein Virus, sondern eine „komplett neue Klasse von Erregern, die in kein bekanntes Kästchen passt“, so de Villiers. Die entdeckten „Bovine Meat and Milk Factors“ (BMMFs) sind ringförmige DNA-Elemente, die nicht als Doppelhelix, sondern als Einzelstrang vorliegen. Sie besitzen große Ähnlichkeit mit bestimmten bakteriellen Plasmiden, berichten die Forscher. Plasmiden sind kleine DNA-Moleküle, die bei vielen Bakterien vorkommen und oftmals Gene tragen, die für Antibiotikaresistenzen verantwortlich sind und krankmachende Eigenschaften eines Bakteriums verstärken können.
Die meisten der von den Forschern gefundenen BMMFs ähneln Plasmiden von „Acinetobacter baumannii“, einem häufig multiresistenten Keim, der Wundinfektionen, Bakteriämie (Einschwemmung von Bakterien in den Blutkreislauf), Sepsis, Lungenentzündung, Hirnhautentzündung oder Harnwegsinfektionen auslösen kann. Dieses Bakterium infiziert nicht nur Menschen, sondern auch Rinder. Einige der Erreger wiesen nach Angaben der Forscher aber auch Ähnlichkeiten mit bestimmten Viren auf.
Für die Wissenschaftler war klar, dass sie es mit einer bislang unbekannten Klasse von Erregern zu tun haben. Im Hinblick auf die Verwandtschaft zu Plasmiden wählten sie die Bezeichnung „Plasmidome“ für diese Klasse. Auch deren Wirkweise bei der Krebsentstehung sei völlig neu, sagt Timo Bund vom Deutschen Krebsforschungszentrum und Mitautor der Studie. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass man sich in den ersten Lebensminuten infiziert, wenn Säuglinge Kuhmilch zugefüttert bekommen. Der Grund: In dieser Phase ist das Immunsystem noch nicht ausgereift. Die Erreger nisten sich ein, die Abwehrzellen tolerieren sie dann auf Dauer. Allerdings entwickelt sich mit der Zeit eine chronische Entzündung –und nach 30 oder auch erst 70 Jahren kann sich dann Krebs bilden, erklärt Timo Bund. Harald zur Hausen spricht von einem „indirekten Mechanismus“. Das heißt: Die BMMFs sind nicht direkt krebsfördernd wie etwa bestimmte humane Papillomviren, sondern schaffen über eine chronische Entzündung ein krebsförderndes Milieu. Bekannt ist dieser Mechanismus zum Beispiel von Hepatitis-C-Viren und Leberkrebs.
Bei Proben von Patienten mit Darmkrebs fanden sich Infektionen mit Plasmidomen in der Bindegewebsschicht unter der Schleimhaut, vor allem in der Umgebung der sogenannten Lieberkühn’schen Krypten. Das sind schlauchförmige Einsenkungen in der Darmschleimhaut, in deren unterem Ende die Darm-Stammzellen lokalisiert sind. Im infizierten Gewebe kommt es zu „oxidativem Stress“, erläutert Ethel-
Michel de Villiers. Die Wissenschaftler wiesen in diesen Arealen erhöhte Spiegel reaktiver Sauerstoffverbindungen nach, die ein typisches Merkmal von Entzündungen sind und Veränderungen im Erbgut begünstigen.
Die Forscher haben bislang vor allem Darmkrebs in den Fokus genommen, gehen aber davon aus, dass die Erreger auch bei Brustkrebs und Prostatakrebs eine Rolle spielen können, möglicherweise sogar noch bei weiteren Erkrankungen. Eine Infektion führe aber nicht zwangläufig zu Krebs, betonen sie. Wie hoch der Anteil von BMMFs am gesamten Darmkrebsrisiko sei, lasse sich noch nicht exakt beziffern. Klar scheint zu sein, dass langes Stillen Schutz bietet. Dafür machen die Wissenschaftler spezifische Zucker in der Muttermilch verantwortlich. Sie sollen auch das Risiko der Mütter für Brustkrebs senken können.
Eine ebenfalls schützende Wirkung bei Dickdarm- und Brustkrebs hätten Mittel wie Aspirin oder Ibuprofen, weil sie entzündungshemmend wirkten, sagt Harald zur Hausen – verbindet diese Erkenntnis aber nicht mit einer Empfehlung, diese Medikamente deshalb regelmäßig einzunehmen. Ebenso sei es unnötig, als Erwachsener auf Rindfleisch und Milch zu verzichten, da man sich die Erreger im Säuglingsalter hole: „Sie können munter weiteressen, weil Sie ohnehin alle infiziert sind“, sagte er den anwesenden Journalisten.
Prävention könne nur in der ganz frühen Lebensphase greifen. Denkbar sei es auch, Rinder zu impfen oder genetisch so zu verändern, dass sie die Erreger nicht in sich tragen.