Zu viel Bevormundung, zu viele Verbote: Corona-Regeln auf den Prüfstand stellen

Ohne die Eigenverantwortung der Menschen geht es nicht in der Corona-Pandemie. Vor diesem Hintergrund sollten die Regelungen überprüft werden. Ein Gastbeitrag.
Am vergangenen Samstag warnte der Bayrische Ministerpräsident Markus Söder angesichts steigender Covid-19-Infektionszahlen vor einem Kontrollverlust in einigen Regionen Deutschlands. Wenn keine Nachverfolgung von Infektionen mehr möglich sei, „muss man die Kontakte generell begrenzen. Das geht nur mit einem Lockdown oder ähnlich strikten Maßnahmen“. Mitte letzter Woche wurden von Bund und Ländern weitere einschränkende Maßnahmen beschlossen. Verordnung über Verordnung. Bürger und selbst Behörden haben Schwierigkeiten, noch den Überblick zu behalten. Es scheint, als hätten einige der Politiker die Kontrolle über ihre Politik verloren.
Aber: Nicht politischer Aktionismus und immer mehr Regelungen tun not, sondern Rationalität. Was sind die Ziele? Welche Lehren können (und müssen) aus den Erfahrungen früherer Pandemien gezogen werden?
Corona in Deutschland: Das Virus ist neu, aber nicht das Phänomen
Die etwaige Argumentation, bei Sars-CoV-2 handele es sich um ein neues Virus, weshalb man nicht auf bisherigen Erfahrungen aufbauen könne, zieht nicht. Pandemie-Viren sind immer völlig neuartige Viren, die leicht übertragbar sind und die auf eine „immunologisch naive“ Weltbevölkerung treffen. Somit handelt es sich bei Sars-CoV-2 um ein durchaus ernstzunehmendes neuartiges Virus – aber nicht um ein neues Phänomen.
Aufbauend auf den Erfahrungen früherer Pandemien wurden international und national Pandemiepläne erstellt. Darin sind Phasen und Ziele der Pandemiebekämpfung beschrieben: Containment (Eindämmungsstrategie), Protection (Schutz vulnerabler Gruppen), Mitigation (Folgenminderung) und Recovery (Erholung).
Corona-Maßnahmen in Deutschland: Isolierung und Quarantäne nur erste Phase des Pandemieplans
Die erste Phase der Eindämmungsstrategie ist fokussiert auf das Erkennen einzelner Infektionen und auf Isolierungs- und Quarantänisierungs-Maßnahmen mit dem Ziel, die Verbreitung des Virus möglichst lange zu verzögern, um Zeit zu gewinnen. Zeit, um beispielsweise „hinter die Grippewelle zu kommen“, um das Gesundheitswesen weiter auszubauen, um absehbare weitere Belastungen besser meistern zu können. Das waren zu Beginn der Pandemie die richtigen Ziele – und sie wurden in Deutschland erreicht.
Die Erfahrung aus früheren Pandemien zeigt aber, dass das Containment ab einer gewissen Ausbreitung eines neuartigen, leicht übertragbaren Virus nicht mehr funktionieren kann, insbesondere, wenn das Virus viele asymptomatische und leichte Infektionen verursacht und die Infizierten unerkannt zu Überträgern werden. Vor diesem Hintergrund sind in den Pandemieplänen die weiteren Phasen der Pandemiebekämpfung vorgesehen: 2) Protection oder Schutz vulnerabler Gruppen: „Die Schutzmaßnahmen werden auf die Personengruppen konzentriert, die ein erhöhtes Risiko für schwere und tödliche Krankheitsverläufe haben, sowie Personen, die engen Kontakt zu diesen Personen haben, zum Beispiel medizinisches Personal, und 3) Mitigation oder Folgenminderung: „Wenn eine anhaltende Mensch-zu-Mensch-Übertragung in der Bevölkerung in Deutschland stattfindet, haben die eingesetzten Schutzmaßnahmen vor allem das Ziel, schwere Krankheitsverläufe zu verhindern und Krankheitsspitzen mit einer Überlastung der Versorgungsstrukturen zu vermeiden“.
Corona in Deutschland: Es braucht ein Umdenken in Bezug auf die Corona-Maßnahmen
Das ist keine Kapitulation vor dem Virus, sondern rationales Handeln und Einsicht in die Realität, um Schaden von der Bevölkerung mit größtmöglichen Erfolgsaussichten abzuwenden. Anfang September stellten René Gottschalk und ich die Frage zum Sinn der derzeitigen Teststrategie und der darauf aufbauenden Maßnahmen und wir fragten, ob nicht doch – gemäß Nationalem Pandemieplan des Robert Koch-Instituts – zunehmend die Schutzstrategie für vulnerable Gruppen sowie die Folgenminderungsstrategie in den Fokus genommen werden solle. Während wir von Ärzten und Fachleuten viele positive Zuschriften erhielten und viele unseren Mut bewunderten (Offenbar braucht es heute Mut, Zahlen in ihrem Gesamtzusammenhang darzulegen und Fragen zu stellen?), gab es auf der anderen Seite die Phalanx derer, die uns Verharmlosung vorwarfen und uns in eine bestimmte politische Ecke stellten und so eine Auseinandersetzung mit den Argumenten verhinderten.
Aus der Aufarbeitung der Schweinegrippe-Pandemie hat man durchaus gelernt. Damals wurde beklagt, dass nur die Infektionsdaten aus der Meldepflicht zur Verfügung stünden, und es wurden weitere Surveillance Systeme gefordert. Diese stehen heute unter anderem mit den Systemen wie Are, Grippeweb, Sari, aber auch dem Divi-Intensivregister und Euromomo zur Verfügung. Sie können von jedem – mit etwas Aufwand – verschiedenen Internetseiten entnommen werden. Aber: sie werden in der politischen und medialen Diskussion nicht genutzt: Stattdessen liegt der Fokus alleine auf der Zahl der Sars-CoV-2 positiv Getesteten. Und aus dem im Herbst zu erwartenden Anstieg der Infektionen wird ein Schreckensszenario aufgebaut, es wird Angst geschürt, verbunden mit einer immanenten Schuldzuweisung an die vermeintlich uneinsichtige Bevölkerung und der Drohung mit weiteren Einschränkungen und Lockdown.
Politik in der Coronakrise: Man hätte mehr aus der Schweinegrippe lernen können
Aus der Aufarbeitung der Schweinegrippe-Pandemie hätte man allerdings auch lernen können, dass eine solche bevormundende, „paternalistische“ Kommunikationspolitik, nicht nur ineffektiv, sondern kontraproduktiv ist. Mit Blick auf Pandemien in der Zukunft wurde eine offene Informationspolitik gefordert, die die Voraussetzungen für selbstbestimmtes Handeln aufgeklärter und informierter Bürger schafft. Vor möglichen Folgen der paternalistischen Informationspolitik wurde gewarnt: unter anderem Verunsicherung in der Bevölkerung, Ärger und Verschwörungstheorien. Das war vor zehn Jahren. Und heute?
Aus der Psychologie ist bekannt: Zuviel Angst schlägt irgendwann in Hilflosigkeit um und führt zur Frage, ob sich die Maßnahmen überhaupt noch lohnen. Zu viel Bevormundung, zu viele Verbote führen zu Abwehr und Widerstand. Erkennt die Politik, dass sie mit dem „Immer mehr“ an Regelungen eine Spirale in Gang gesetzt hat, der sie kaum noch entkommt? Jetzt, nach Monaten der Pandemie-Regelungen, betont sie erstmals die Eigenverantwortung der Menschen, ohne die es nicht gehe. Wie wahr. Vor diesem Hintergrund müssen die Regelungen überprüft und unsinnige wie Beherbergungsverbote oder das grundsätzliche Tragen von Masken außer Haus schnellstmöglich zurückgenommen werden.
Ungezieltes Testen kein Schutz gegen Corona
Auch das ungezielte epidemiologische Testen sollte zugunsten eines besseren Schutzes der Risikogruppen und dann einer gezielten diagnostischen Teststrategie verlassen werden. Viel hilft nicht immer viel. Wenn das umfassende ungezielte Testen dazu führt, dass die Testergebnisse verzögert vorliegen, schadet das den Patienten, die aus medizinischen Gründen rasch ein Testergebnis benötigt hätten. Wenn die jetzt geplanten umfangreichen Antigentests dazu führten, dass beispielsweise in Altenpflegeheimen bei negativen Tests die sinnvollen Hygienemaßnahmen lockerer gehandhabt würden, wäre das gefährlich. Hygiene, nicht Tests, verhindert Infektionen.
Der Schutz der vulnerablen Gruppen – Alte, vorerkrankte Menschen, Bewohner von Altenpflegeheimen – darf dabei keineswegs eine erneute Einschränkung der Besuchs- und Bewegungsfreiheit für die Bewohner bedeuten. Stattdessen ist ein Dialog erforderlich, wie ein guter Schutz für diese Menschen erreicht werden kann – bei Beachtung der Balance zwischen Infektionsschutz und Wohlbefinden und Lebensqualität. Teilnehmer an einem Runden Tisch können neben Gesundheitsämtern und Vertretern der Einrichtungen insbesondere Patientenvertreter, Heimbeiräte und Vertreter der Angehörigen sein.
Schutzmaßnahmen gegen Corona brauchen einen Fokus auf sinnvolle Hygienemaßnahmen
In der Gesamtbevölkerung muss der Schwerpunkt auf umsetzbaren und sinnvollen Hygienemaßnahmen liegen wie Husten- und Niesetikette, Händehygiene, Abstandhalten und gutem Lüften von Innenräumen, ergänzt durch das richtige Tragen von Masken, wo der Abstand nicht eingehalten werden kann, und durch ganz besondere Vorsicht im Kontakt mit Angehörigen oder Kontaktpersonen, für die eine Sars-CoV-2-Infektion ein besonderes Risiko bedeutet. Dabei muss klar kommuniziert werden, dass ein weiterer Anstieg der Infektionen hochwahrscheinlich ist und mit diesen Maßnahmen zwar nicht jede Infektion verhindert, aber doch das Bestmögliche für alle erreicht werden kann. Wenn die Menschen das einsehen, machen sie das. (Ursel Heudorf)
Ursel Heudorf ist Fachärztin für öffentliches Gesundheitswesen und hat von 1990 bis 2019 im Gesundheitsamt Frankfurt gearbeitet, viele Jahre als Leiterin der Abteilung Infektiologie und Hygiene und stellvertretende Amtsleiterin. Außerdem ist sie Lehrbeauftragte für Öffentliche Gesundheit an der Universität Gießen. Sie hat die Johann Peter Frank-Medaille erhalten, die höchste Auszeichnung der Ärzte des öffentlichen Gesundheitswesen.