Das Artensterben geht schneller als gedacht

Vor allem dort, wo die Vielfalt besonders groß ist, schreitet die Entwicklung dramatisch fort. Hauptursache ist die Landwirtschaft - noch vor dem Klimawandel.
Es könnte sein, dass Lebewesen von der Erde verschwinden, die nie ein Mensch zu Gesicht bekommen hat, von deren Existenz niemand etwas weiß. Auf Madagaskar zum Beispiel, dessen unglaublich reiche Fauna und Flora noch längst nicht vollständig erforscht ist. Eine deprimierende Vorstellung. Noch erschreckender ist die Aussicht, dass nicht nur dort, sondern auch noch in vielen anderen Regionen der Erde tausenden von Tier- und Pflanzenarten das Ende droht, verursacht durch den Einfluss des Menschen.
Die Tatsache ist seit Jahren bekannt – doch der Exitus dürfte sich schneller und in noch größerem Ausmaß ereignen als bislang angenommen. Das hat eine im Fachmagazin „Conversation Letters“ veröffentlichte Studie eines internationalen Forscherteams ergeben, dem auch Wissenschaftler der Universität Hamburg angehörten.
Artensterben: Landwirtschaft und Klimawandel sind Faktoren
Die Forscher erstellten für 33 besonders artenreiche und bedrohte Gebiete, die sogenannten „Hotspots der Biodiversität“, Prognosen. Erstmals wurden dafür die Auswirkungen der beiden schwerwiegendsten Faktoren berücksichtigt und miteinander verglichen: Es handelt sich um die Landwirtschaft und den Klimawandel. Ein Ergebnis der Analyse: Bereits heute ist die Natur nur noch in weniger als zehn Prozent dieser Flächen intakt.
Solche Regionen, die außergewöhnlich vielen verschiedenen Pflanzen und Tieren einen Lebensraum bieten, sind der Amazonas-Regenwald, Madagaskar, Teile des tropischen Afrikas, der Philippinen, der Inselwelt Indonesiens oder der Karibik. Dort kommen zudem besonders viele endemische Arten vor, die sonst nirgendwo anders auf der Erde zu finden sind. Dazu gehören als prominente Beispiele die Lemuren und verschiedene Arten von Baobab-Bäumen auf Madagaskar oder die Orang Utans auf Borneo und Sumatra.
Auf Madagaskar leben mehr als 10 000 endemische Arten
Gerade auf Madagaskar und anderen Inseln des Indischen Ozeans konnte sich in Millionen Jahren der Isoliertheit, ohne störende Einflüsse von außen, eine Fülle der verschiedensten Tiere und Pflanzen entwickeln. Mehr als 10 000 endemische Arten existieren dort, auf den indonesischen Inseln sind es 15 000. „Alle Hotspots zusammen entsprechen nur 2,6 Prozent der Erdoberfläche, beherbergen aber über 50 Prozent aller Pflanzen- und Wirbeltierarten der Erde“, erklärt Livia Rasche vom Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) der Universität Hamburg und Hauptautorin der Studie.
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Die Untersuchung ergab, dass die Landwirtschaft für Tiere und Pflanzen eine wesentlich akutere Gefahr darstellt als der Klimawandel. Demnach beeinträchtigen steigende Temperaturen die Artenvielfalt eher langfristig, während sich die Landwirtschaft binnen kurzer Zeit verheerend auswirkt. „Unsere Studie zeigt für die kommenden 30 Jahre, dass die Folgen der Ausbreitung landwirtschaftlicher Flächen gravierend sind, weil sie die natürlichen Lebensräume unmittelbar zerstören“, sagt Livia Rasche.
Artensterben: Stark gefährdete Bereiche auf den Philippinen und Madagaskar
Nach Einschätzung der Forscher werden neun bis dreizehn der 33 „Hotspots der Biodiversität“ bis zum Jahr 2050 ihre gesamte unberührte Vegetation verloren haben. Der Klimawandel hingegen wirke sich „nur“ in zwei bis sechs dieser Gebiete auf mehr die Hälfte ihrer Fläche „signifikant“ aus.
„Stark gefährdet sind unter anderem Bereiche auf den Philippinen, den Karibischen Inseln, Madagaskar, im tropischen Afrika und im Amazonas-Regenwald, wo besonders viele Pflanzenarten heimisch sind“, sagt Jan-Christian Habel von der Universität Salzburg, ein weiterer Hauptautor der Studie.
Der Grund für die Bedrohung der Tiere und Pflanzen dort liegt nach Ansicht der Wissenschaftler vor allem im rasanten Bevölkerungswachstum in diesen Gebieten. All diese Menschen brauchen Essen, sie legen Felder für Nutzpflanzen an, um sie zu Nahrung für sich und ihr Vieh zu verarbeiten, weichen von trockenen kargen Böden auf fruchtbare aus, roden Wälder und vernichten damit die Heimat etlicher Tier- und Pflanzenarten. Zusätzlich befeuern die Rodung von Regenwald und die Viehhaltung den Klimawandel. Bereits heute wird rund die Hälfte der Flächen in den artenreichen Gebieten landwirtschaftlich genutzt.
Artensterben: In früheren Naturparadiesen wird heute Biokraftstoff angebaut
Doch es geht mitnichten nur um die Versorgung der lokalen Bevölkerung, auch das betonen die Forscher. In etlichen einstigen Naturparadiesen werden heute Pflanzen für Biokraftstoffe in der ganzen Welt angebaut, vielerorts dominieren Palmenplantagen, um daraus Palmöl zu gewinnen. Auch in deutschen Supermärkten steckt es in etwa der Hälfte der Produkte. Eine andere beliebte Monokultur, die Vielfalt verdrängt, sind Plantagen voller Sojabohnen. Die Nachfrage wächst stetig, Allein in Brasilien hat sich die Produktion zwischen 2002 und 2016 von 43 auf 96 Millionen Tonnen mehr als verdoppelt. Sojabohnen werden zu Viehfutter, für Bioenergie und auch für die menschliche Ernährung verarbeitet.
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Und noch auf einen weiteren Trend weisen die Wissenschaftler in ihrer Studie hin: dass auch in den „Hotspots der Biodiversität“ verstärkt Vieh gezüchtet wird, um „den Hunger nach Fleisch“ in den Indusrienationen zu stillen. Erschwerend kommt bei all diesen potenziellen Gefahren hinzu, dass nur wenige artenreiche Gebiete unter Naturschutz stehen, wie die Forscher erklären.
Artensterben: Auch im Mittelmeerraum geht die Vielfalt zurück
Ihre Studie hat außerdem gezeigt, dass ausgerechnet jene artenreichen Regionen besonders unter Druck stehen, in denen die Pflanzenwelt ohnehin schon stark gelitten hat. „In mindestens neun Hotspots sind alle der nur dort vorkommenden Arten vom Aussterben bedroht“, sagt Livia Rasche.
Weltbericht: Menschheit tilgt die Natur von der Erde
Das große Sterben droht indes nicht nur in tropischen Regionen, auch im Mittelmeerraum ist nach den Prognosen der Forscher mit einem dramatischen Rückgang der Artenvielfalt zu rechnen,
„Die Lage ist viel ernster als bisher angenommen und Schutzmaßnahmen sind dringend nötig“, mahnt Jan-Christian Habel. Die Wissenschaftler fordern deshalb, dass die Regierungen der Welt sich zu einem „nachhaltigen Landmanagement“ verpflichten: „Dies muss so umgesetzt werden, dass die Versorgung der Menschen, der Klimawandel und die biologische Vielfalt gemeinsam berücksichtigt werden“, sagt Livia Rasche.
Wenig beachtet von der Weltöffentlichkeit verliert die Hindukusch-Himalaya-Region schleichend ihre riesigen Gletscher. Eine Katastrophe für die ganze Welt.
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