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Anreden in Zeiten der Vielfalt

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Studentinnen und Studenten in der Universität Köln. (Archivbild)
Studentinnen und Studenten in der Universität Köln. (Archivbild) © dpa

Es ist nicht egal, wie man eine Gruppe von Menschen bezeichnet.

Seit dreißig Jahren benutze ich konsequent und bereits automatisiert für die Anrede einer Gruppe von Menschen in einer Rede oder einem Text die weibliche und männliche Form. Ich spreche von „Schülerinnen und Schülern“, „Lehrerinnen und Lehrern“, „Bürgerinnen und Bürgern“ und hatte plausible Gründe, so zu verfahren: Aus feministischer Sicht sollte die große Gruppe der Mädchen und Frauen im öffentlichen Reden und in Texten sichtbar werden. Es sollte mit der doppelten Anrede deutlich gemacht werden, wie stark die Gruppe der Frauen in vielen Berufsfeldern ist und wie stark die Aufgaben von Frauen im öffentlichen Leben sind. Es waren gesellschaftspolitisch einleuchtende Gründe.

Seit dem neuen Grundsatzurteil, dass ein drittes Geschlecht als „inter/divers“ gewählt werden darf, denke ich darüber nach, wie ich in Zukunft sprachlich verfahren möchte. Was ist sprachlich und gesellschaftspolitisch in der öffentlichen Ansprache oder Bezeichnung einer Gruppe sinnvoll? Denn nur darum kann es doch beim „Gendern“ gehen: Es geht um öffentliches Reden in Bezug auf eine Gruppe von Menschen oder eine Vielzahl von Menschen. Es geht nicht um die persönliche Ansprache. In face-to-face-Situationen, von Angesicht zu Angesicht ist es ohne Zweifel geboten, dass das Gegenüber so angesprochen wird, wie es das wünscht. Stellt sich mir jemand als „Frau Meier“ vor, sage ich „Frau Meier“, sagt es jemand anders, sage ich es anders. Das ist eine Frage der persönlichen Anerkennung und Reziprozität. Sprachlich strittig kann nur die Bezeichnung und Ansprache von vielen sein. Und hier ist die Frage zu stellen, ob man Geschlechtlichkeit überhaupt markieren möchte oder ob im Verzicht auf diese Markierung die eigentliche Emanzipation, der Egalitätsanspruch liegt.

Unter der Perspektive von Vielfalt erscheint es sinnvoll, von der Betonung des Geschlechts ganz abzusehen und stärker die Rolle, die dem Zuhörer und Vortragenden, dem Leser oder Autor, dem Schüler oder Lehrer zukommt, zu betonen. Diese Rollen sind funktional und generalisiert. Das Publikum hat seine Rolle: es hört zu, klatscht an den geeigneten Stellen, lacht, wenn ein Scherz gemacht wird.

Schüler sind in der Regel die Personen, die zur Schule gehen müssen. Ihnen kommen ganz spezifische Aufgaben und Rechte, Pflichten und Verhaltensweisen zu. Von Schülern erwartet man Anderes als von Lehrern. Lehrer bilden die Gruppe von Menschen, die Schule und Unterrichten zu ihrem Beruf gemacht haben. Sie sind rollenförmig als Lehrer in der Schule. Insofern spielt das Geschlecht in dieser funktionalen Betrachtung eigentlich keine Rolle. Wenn das Geschlecht eine Rolle spielt, weil man im Zusammenhang mit dem Geschlecht etwas thematisiert, dann greift man zu dem Begriff „Schülerinnen“ oder „Lehrerinnen“: „An Grundschulen arbeiten fast nur Lehrerinnen.“ Selbstverständlich bedeutet das etwas anderes als „An Grundschulen arbeiten fast nur Frauen als Lehrer.“ Und das ist wieder etwas anderes als „An Grundschulen arbeiten fast nur Frauen als Lehrerinnen.“

Differenzierung durch Wörter

In der Sprache gibt es verschiedene Wörter, die man zur Differenzierung dessen, was man sagen möchte, nutzen kann. Die Bezeichnung „Lehrer“ gilt einer Berufsgruppe, während „Lehrkräfte“ eher eine größere Gruppe von Menschen bezeichnet, die lehrt, aber nicht nur ausgebildete Lehrer umfasst. „Schüler“ bezeichnet eine Gruppe von Kindern oder Jugendlichen, die in der Schule eine besondere Rolle hat, während Lernende alle Menschen sind, die gerade etwas lernen, also auch Lehrer. Deshalb sind die Begriffe „Studenten“ und „Studentinnen“ auch nicht zu ersetzen durch den Begriff „Studierende“.

Es ist nicht egal, sondern bedeutungsvoll, wie man eine Gruppe von Menschen bezeichnet. Mit unterschiedlichen Begriffen lassen sich unterschiedliche Bedeutungen entfalten. Schließt man einen Begriff kategorisch aus, entfällt eine Bedeutungsdimension. Daraus folgt eine besondere Verantwortung für die Formulierung. Jeder einzelne von uns trägt die Verantwortung für eine differenzierte Anrede oder Bezeichnung. Diese Differenzierung schafft man nicht durch Wortneuschöpfungen wie „Schüler*innen“. Im Gegenteil, sie reduzieren die Bedeutungsvielfalt eher, weil sie stark normierend gebraucht werden. Bedeutungsvielfalt entsteht durch einen differenzierten Gebrauch der bestehenden Pluralformen und ein genaues Nachdenken darüber, wen ich gerade wie ansprechen oder bezeichnen mag.

Bei drei Geschlechtern wird es Zeit, zu der sprachlichen Regelung zurückzukehren, die keine Markierung auf Geschlechtlichkeit legt. Aus der Perspektive der Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt erscheint mir eine einfache Anrede einer Gruppe von Menschen mit „liebe Schüler“ oder „liebe Lehrer“ oder „liebe Freunde“ geboten. Denn dies ist die Pluralform. Mit der Geschlechtlichkeit einer Gruppe hat diese nichts zu tun, sie ist überhaupt nicht gemeint. Wer die Vielfalt der Geschlechter betonen möchte, sollte von einer Markierung von Geschlechtlichkeit absehen. Die Schüler sind allein in ihrer Funktion als Schüler angesprochen. Die unterschiedlichen biologischen oder sozialen Geschlechter spielen dabei keine Rolle.

Die gesellschaftspolitische Relevanz einer Anrede oder Bezeichnung liegt nicht darin, dass sich jeder in seiner Geschlechtlichkeit angemessen bezeichnet fühlt. Diese Angemessenheit ist nur in der direkten Kommunikationssituation zu erreichen, in der jeder selbst sagen kann und muss, wie er gerne angesprochen werden möchte. Die gesellschaftspolitische Relevanz einer Anrede, die von der Geschlechtlichkeit absieht, liegt einerseits in der Akzeptanz, dass jede Selbstdefinitionen erlaubt ist und andererseits in der Betonung, dass für das öffentliche Zusammenleben und den öffentlichen Diskurs die Geschlechter nicht immer relevant sind, sondern die Positionen und Handlungen, Rollen und Aufgaben, die jemandem zukommen. Es gab eine Zeit, in der es wichtig war, zu betonen, dass Wissenschaftler auch Wissenschaftlerinnen sind. Jetzt ist es an der Zeit, zu betonen, dass Wissenschaftler alle möglichen, auch geschlechtlichen Menschen sind.

Susanne Gölitzer ist Autorin und Schulleiterin in Frankfurt. Zuletzt von ihr erschienen ist: „Dialog. Gemeinsam denken in einer vielstimmigen Welt“.

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