Der Alptraum vom Haus am Meer

Meeresströmungen und Klimawandel bedrohen in Südwestfrankreich küstennahe Bauten. 580 Häuser dürften bis zum Jahr 2050 in den Atlantik kippen, 90 womöglich schon in diesem Winter.
Lacanau-Océan rüstet auf. Bautrupps haben Felsbrocken zu einem Schutzwall aufgetürmt. Am Ende des Strandes ragt er empor. Landeinwärts folgen Palisadenzäune und Flugsand zurückhaltende Netze. An Masten montierte Videokameras zeichnen auf, was zwischen Wall, Zäunen und Netzen vor sich geht. Der Badeort an der französischen Atlantikküste hat allen Grund, sich zu wappnen. Die Naturgewalten greifen an. Tag und Nacht tost das Meer, rollen die Wellen an, drängen Strand und Dünen immer weiter zurück.
Thomas Bulteau, Forscher am Observatorium für die Küste der südwestfranzösischen Region Nouvelle-Aquitaine, verfolgt das Kräftemessen zwischen Mensch und Natur aus der Distanz. Das Büro des an der amerikanischen Stanford-Universität ausgebildeten Wissenschaftlers liegt 60 Kilometer landeinwärts in Pessac, einem Vorort von Bordeaux. „Meine Aufgabe ist es, das Ausmaß der Risiken zu ermitteln, denen die Küste ausgesetzt ist“, sagt der 32-Jährige. Die Ergebnisse stelle er Politikern zur Verfügung, die dann an Hand der Daten Entscheidungen treffen könnten.
Lacanau-Océan: ein Paradies auf Erden
Der von Bulteau und seinen Kollegen erhobene Befund ist für die Politik wenig erbaulich. Lacanau-Océan ist demnach kein Einzelfall. An den von Dünen gesäumten Stränden zwischen der spanisch-französischen Grenze und dem 250 Kilometer weiter nördlich gelegenen Soulac-sur-Mer verzeichnet der Atlantik derzeit einen jährlichen Geländegewinn von 1,7 bis 2,5 Metern.
Hauptursachen sind Strömungen, die ufernahen Sand abtragen, sowie das Treibhausgasen und Erderwärmung geschuldete Ansteigen des Meeresspiegels. Zurzeit kämen jährlich gut drei Millimeter hinzu, sagt der Forscher. Für Lacanau-Océan heißt das: In ein paar Jahrzehnten wird es die Uferpromenade mit ihren Villen, Apartmenthäusern, Geschäften, Restaurants nicht mehr geben. Die Häuserzeile wird ins Meer kippen.
Anderen Badeorten der Region geht es nicht viel besser. Der GIP, ein Zusammenschluss der Gebietskörperschaften der Region, geht von 580 erosionsgefährdeten Bauten aus, die bis zum Jahr 2050 einzustürzen drohen. Rund 90 Häuser oder Appartements kann dieses Schicksal bereits in diesem Winter ereilen, sollten Unwetter dort mit ähnlicher Gewalt wüten, wie dies zuletzt 2013/2014 der Fall war.
Sich den Horror auszumalen, fällt nicht leicht. Lacanau-Océan scheint an diesem Novembernachmittag ein Paradies auf Erden. Surfer vergnügen sich in der Brandung. Ein Liebespaar sammelt Muscheln. Rentner tauschen sich auf der Uferpromenade über Bordeauxweine und Pferderennen aus. Die tiefstehende Sonne trägt am Himmel kräftige Farben auf. Eben noch violett, erstrahlt er nun in Rot- und Orangetönen. Benoît tritt hinzu, bärtig, braungebrannt, ein Lächeln im Gesicht, von Zukunftsängsten keine Spur. Dabei arbeitet der 37-Jährige als Kellner im Restaurant Kayoc. Auf einer Düne thronend scheint es mehr als alle anderen Bauten des Ortes dem Untergang geweiht. Ist die angekündigte Katastrophe am Ende ein Hirngespinst freudloser Pessimisten?
„Das Meer ist stärker“
Benoît schüttelt den Kopf, deutet auf das Ende der Lacanau-Océan säumenden Befestigungsanlagen. Der Strand entzieht sich dort den Blicken. „Wo Dämme und Zäune aufhören, hat sich das Meer bereits weit ins Land hineingefressen, erläutert Benoît den Küstenverlauf. Aber auch mit dem von der Gemeinde errichteten Bollwerk sei bestenfalls Zeit zu gewinnen. Bei den im Winter 2013/2014 wütenden Stürmen sei dem Restaurant bereits die Terrasse weggeschwemmt worden. „Mehr als hinhaltender Widerstand ist nicht drin, das Meer ist stärker“, sagt er. Selbst wenn die Klimakonferenz in Bonn entschlossen nachlege, das hehre Ziel einer Erderwärmung von nur zwei Grad bis zur Jahrtausendwende erreicht werde: Für Lacanau-Océan käme der Fortschritt zu spät.
Bulteau hatte sich ähnlich geäußert. Ganz gleich, wie weit der CO2-Ausstoß letztlich reduziert werde, bis 2035 würden Temperaturen und Meeresspiegel weiter steigen, hatte der Forscher gesagt. Es sei wie auf einem Ozeandampfer, der auch nach entschlossenem Gegensteuern lange geradeaus weiterfahre. Offen sei allein, ob der Wasserspiegel bis zum Ende des Jahrhunderts einen halben oder einen ganzen Meter steige. Lacanau-Océan richtet sich denn auch auf eine gigantische Umsiedlungsaktion ein. Laurent Peyrondet, der Bürgermeister des Ortes, hält 1200 Wohnungen und 100 Geschäfte für potenziell gefährdet. Die Umsiedlungskosten schätzt er auf rund 330 Millionen Euro. Woher das viele Geld kommen soll, steht in den Sternen. Die Gemeinde könne solche Beträge niemals stemmen, stellt Peyrondet klar. Der Staat sei gefordert.
Gigantischer Damm gewährt zeitlichen Aufschub
Jean Mazodier hat sein Haus bereits verkauft. Im 50 Kilometer entfernten Cap Ferret steht es auf einer dem Meer trotzenden Halbinsel. Leicht gefallen ist es dem 77-jährigen Ingenieur nicht. Die Großmutter hatte es 1910 ein paar Meter vom Strand entfernt bauen lassen und nach ihren Nichten Marie und Jeanne genannt. Unter Pinien und Mimosenbäumen pflegte Mazodier hier als Kind seine Sommerferien zu verbringen. Die Zukunft des Hauses scheint fürs erste gesichert. Der Nachbar Benoît Bartherotte hat aus Betonklötzen, Stahlrohren und Felsbrocken einen gigantischen Damm aufschütten lassen, von dem auch angrenzende Grundstücke profitieren.
Mazodier kann sich an dem Schutzwall freilich trotzdem nicht wirklich freuen. Als Vorsitzender des Vereins für Schutz und Gestaltung von Cap Ferret sieht er sich nicht nur dem Vermächtnis der Großmutter verpflichtet, sondern auch dem Wohl des gesamten Ortes. Und darum ist es nun noch schlechter bestellt. Die durch den Damm zurückgedrängten Wassermassen haben einen bis zu 40 Meter tiefen Meeresgraben aufgerissen und einen Sog entfacht, der die Strömungen verstärkt, die den ungeschützten Grundstücken zusetzen. „Wer das Geld hat, sich einen Damm zu bauen, stürzt diejenigen, die keinen haben, noch tiefer ins Elend“, sagt Jean Mazodier.
Im Schritttempo fährt er in Cap Ferret Schauplätze drohenden oder bereits eingetretenen Untergangs ab. Der Blick fällt auf von deutschen Besatzern errichtete Befestigungsanlagen aus dem Zweiten Weltkrieg. Das Meer hat sie erobert. Bunkerdächer und Geschützrohre ragen aus der Brandung. Mazodier hält an eingebrochenen Dünen, die mehr an Kliffs oder Steinbrüche erinnern als an Sandhügel. Schilder warnen vor dem Sturz in die Tiefe. An einem Kreisverkehr bleibt er stehen, deutet auf eine sich zur Rechten erhebende Anhöhe. „Hier war ein Ferienlager für Kinder, eine sich landeinwärts schiebende Düne hat es unter sich begraben“, erzählt er. „Alles ist provisorisch hier“, fügt er hinzu.
In Soulac-sur-Mer ist die Veränderung bereits Realität
In Soulac-sur-Mer ist nicht mehr alles provisorisch. Das Ende eines in den 70er Jahren noch 200 Meter landeinwärts errichteten Apartmenthauses ist dort bereits besiegelt. Das Signal genannte Gebäude wurde aus Sicherheitsgründen geräumt. Als weithin sichtbares Klimaschutzmahnmal ragt der Betonklotz am Dünenrand in den Himmel. Die ehemaligen Bewohner sehen sich als Opfer einer Naturkatastrophe und verlangen vom Staat Entschädigung. Die Gesetzeslage ist unklar. Das Recht hinkt der Entwicklung hinterher, liefert auf viele der durch die Erosion an Frankreichs Küsten aufgeworfenen Fragen keine Antwort.
Die Sozialistin Pascale Got und ihre Parteifreundin Chantal Berthelot hatten im vergangenen Jahr versucht, Abhilfe zu schaffen. Die beiden brachten ein „Gesetz zur Anpassung der Küste an den Klimawandel“ in die Nationalversammlung ein. Es gestand Bürgermeistern das Recht zu, gefährdete Küstenabschnitte auszuweisen in denen der Gemeinde besondere Befugnisse zukommen sollten wie etwa ein Vorkaufsrecht. Geschädigte Haus- und Wohnungseigentümer wiederum sollten Anspruch auf 90.000 bis 100.000 Euro Entschädigung haben. Die Nationalversammlung segnete das Vorhaben Anfang 2017 ab. Der Senat aber verweigerte die Zustimmung. Die konservative Mehrheit der zweiten Kammer sah die Chance gekommen, mit Verweis auf allfällige Umsiedlungsprojekte die 1986 zum Schutz der Küstenregion erlassenen Baubeschränkungen zu lockern. Man müsse vom Vordringen des Meeres betroffenen Hausbesitzern alternatives Bauland bieten, argumentierten die Senatoren. Umweltschützer schlugen Alarm, warfen den Konservativen vor, sie wollten die Küste zubetonieren. Über den Machtwechsel in Elysée-Palast und Nationalversammlung geriet das Vorhaben in Vergessenheit.
„Um mein Gesetz ist es still geworden“, erzählt Pascale Got. Ohne klare rechtliche Handhabe mache ein jeder, was er für richtig halte. Verantwortliche Politik sehe anders aus. Aus Sicht Bulteaus haben Betroffene indes wenig Handlungsspielraum. „Sie können abwarten, sie können Sand herankarren, sie können Dämme bauen oder gleich Umsiedlungspläne schmieden“, zählt der Forscher die sich bietenden Alternativen auf. Die Versuchung, sich anstatt düsteren Zukunftsszenarien lieber der erfreulicheren Gegenwart hinzugeben, ist entsprechend groß. Als wäre die erste Häuserreihe am Strand von Lacanau-Océan nicht dem Untergang geweiht, wird dort kräftig investiert. Auf einer Werbetafel kündigt ein Bauträger ein neues Einkaufszentrum an. Über den Geschäften sollen 15 Wohnungen entstehen. „Im nächsten Jahr bezugsfertig“, steht auf der Tafel. An den Balkons des benachbarten Apartmenthauses prangen Inschriften ganz anderer Art. „Zu verkaufen“, steht dort zu lesen.