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Wieso Russlands Wirtschaft wächst

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Von: Stephan Kaufmann

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Badende am Kieselstrand von Sotschi in Russland: Wegen der Reisebeschränkungen boomt der Inlandstourismus.
Badende am Kieselstrand von Sotschi in Russland: Wegen der Reisebeschränkungen boomt der Inlandstourismus. © Dmitry Feoktistov/Imago

Das Bruttoinlandsprodukt des Landes wird in diesem Jahr wohl stärker steigen als das deutsche. Wirken die Sanktionen also nicht?

Die G7-Staaten planen weitere Verschärfungen ihrer Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Bislang haben die Maßnahmen nicht die beabsichtigte Wirkung gehabt. Russlands Wirtschaftsleistung ist nicht eingebrochen, dieses Jahr soll sie sogar wieder steigen. Hinter diesem Wachstum stehen allerdings viele Fragezeichen – und tiefe Verwerfungen in der Wirtschaftsstruktur.

Russland ist seit dem Einmarsch in die Ukraine das am härtesten sanktionierte Land der Welt. Nach Kalkulationen des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) sind rund 14 000 Maßnahmen gegen russische Unternehmen, Güter und Personen beschlossen worden. Darüber hinaus haben viele westliche Unternehmen das Land verlassen. Im Ergebnis brach das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten Quartal 2022 um 4,6 Prozent ein. In den Folgequartalen erholte es sich laut WIIW allerdings wieder, vor allem weil der Staat mehr ausgab.

Die staatlichen Gelder stützten den privaten Konsum und sorgten dafür, dass die Bruttoanlageinvestitionen weiter wuchsen. Am Ende blieb lediglich ein Minus von 2,1 Prozent für das Gesamtjahr 2022 – statt des vor dem Krieg erwarteten Wachstums von 2,5 bis 3,5 Prozent.

Landwirtschaft profitiert von sehr guter Ernte

Für das laufende Jahr prognostiziert der Internationale Währungsfonds wieder einen Anstieg des russischen BIP um 0,7 Prozent, und es wird vielfach darauf hingewiesen, dass Russlands Wachstum damit oberhalb dessen der deutschen Wirtschaft liegen wird. Im vergangenen März nahm die russische Industrieproduktion überraschend stark zu, sie liegt nun 1,2 Prozent über dem Wert ein Jahr zuvor. Die Sanktionen scheinen also kaum zu wirken.

Doch das stimmt nicht. Elena Ribakova vom Peterson Institute for International Economics weist darauf hin, dass die Zahlen zu den Anlageinvestitionen in den offiziellen Statistiken übertrieben hoch dargestellt werden. Wichtiger aber noch ist, dass sich hinter den positiven Durchschnittszahlen große Unterschiede verbergen. So brach im vergangenen Jahr der Umsatz des Groß- und Einzelhandels um fast 13 Prozent ein. In der Industrie erlitten einige exportorientierte Branchen wie die Chemie heftige Einbußen, der auf Importe angewiesene Autobau schrumpfte fast um die Hälfte.

Auf der anderen Seite florierte 2022 die Güterkategorie „Sonstige verarbeitete Metallprodukte“, zu der auch die Produktion von Militärgerät gehört. Das Plus bei der Industrieproduktion im März von sechs Prozent wurde angetrieben durch einen 30-prozentigen Anstieg dieser Güterkategorie. Zu den Stützen der russischen Wirtschaft gehört laut WIIW auch die Pharmabranche, da sie den Ausfall von Importen kompensiert. Die Landwirtschaft profitierte von einer außergewöhnlich guten Ernte. Die staatliche Förderung von Hypothekendarlehen stärkte die Sektoren Bau und Finanzen. Und angesichts der eingeschränkten Reisemöglichkeiten bilanzierte der inländische Tourismus einen echten Boom.

Russische Wirtschaft lebt von staatlicher Unterstützung

Der Außenhandel Russlands blieb bislang in der Summe ebenfalls überraschend stabil. Viele der sanktionierten Güter erreichen über Drittländer wie Armenien, die Türkei oder Kasachstan das Zielland, was die EU und die USA durch politischen Druck zu verhindern suchen. Zudem sind China, Indien und andere Staaten als Abnehmer und Lieferanten eingesprungen. Und schließlich weist das WIIW darauf hin, dass trotz zahlreicher Ankündigungen erst sechs Prozent aller ausländischen Unternehmen den russischen Markt komplett verlassen haben.

Die russische Wirtschaft lebt von staatlicher Unterstützung. Den Staatsfinanzen Moskaus jedoch stehen voraussichtlich deutliche Einnahmeverluste bevor. Noch 2022 führten hohe Weltmarktpreise für Öl und Gas zu einem rekordhohen Leistungsbilanzüberschuss von 230 Milliarden Dollar, doppelt so viel wie im Vorjahr. Inzwischen allerdings sind die Weltmarktpreise gesunken. Zudem hat der Westen neue, schärfere Sanktionen gegen russisches Öl erlassen, was den Preis für russisches Ural-Öl auf rund 50 Dollar je Fass hat fallen lassen. Als Ölkäufer springen zwar China und Indien ein, aber auch ihnen muss Russland hohe Rabatte gewähren.

Größere Probleme hat der russische Gassektor, dessen Ausfuhren 2022 aufgrund der Sanktionen um 31 Prozent gesunken sind. Für das Gesamtjahr schätzt die Internationale Energieagentur, dass Russland acht Prozent weniger Gas fördern wird. Lieferungen nach China oder die Türkei können die Ausfälle in Europa nicht kompensieren.

Im Ergebnis fielen die staatlichen Einnahmen aus dem Energiesektor im ersten Quartal 2023 um 45 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, die Gesamteinnahmen gingen ein Fünftel zurück, so das WIIW.

Westliche Technologie fehlt

Gleichzeitig stiegen die Ausgaben um ein Drittel, etwa die Hälfte der Ausgaben floss laut Schätzungen in den Militäretat. Das treibt das Defizit in die Höhe, für das erste Quartal habe es 2,4 Billionen Rubel betragen, was 82 Prozent des Zielwertes für das Gesamtjahr entspreche. Vorerst dürfte Moskau das Geld nicht ausgehen – zur Finanzierung ihrer Vorhaben kann sich die Regierung höher verschulden oder den Staatlichen Wohlfahrtsfonds anzapfen.

Mittel- bis langfristig stellt sich allerdings die Frage, wie insbesondere das Fehlen westlicher Technologie sich sowohl auf die militärischen Fähigkeiten Russlands wie auf seine weitere ökonomische Entwicklung auswirken wird. Ein Teil könnte durch Chinas Lieferungen ersetzt werden, ein weiterer Teil durch heimische Produktion. Doch sind „chinesische und russische Produkte generell von minderer Qualität, und einige westliche Produkte wie moderne Computerchips können laut Berichten gar nicht ersetzt werden“, so das WIIW. „Es ist daher wahrscheinlich, dass die Diversifizierung der russischen Wirtschaft begleitet wird von ihrer ‚Primitivierung‘.“

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