Wege aus der Armut

Das starke Bevölkerungswachstum überfordert viele Staaten in Afrika. Systeme der sozialen Sicherung können den demografischen Wandel beeinflussen.
In jeder Sekunde wächst die Weltgemeinschaft im Schnitt um 2,1 Menschen – aufs Jahr gerechnet sind das rund 66 Millionen Personen. Die Wachstumsrate schrumpft zwar seit fünf Jahrzehnten, dennoch werden laut Prognosen der UN noch bis Ende dieses Jahrhunderts in absoluten Zahlen immer mehr Erdenbürger:innen hinzukommen. Erst gegen 2100 rechnen die UN mit einer Zeitenwende – dann, so die Projektionen, wird die Menschheit schrumpfen.
Bis dahin aber könnten dann schon elf Milliarden Menschen auf der Erde leben. In Afrika südlich der Sahara wird sich die Bevölkerung bereits bis zum Jahr 2050 verdoppeln. Eine solche Entwicklung würde auch Industrienationen wie Deutschland überfordern. Für viele Länder Afrikas aber, denen es an Hospitälern und Schulen fehlt, Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen haben, wo formelle Arbeitsverhältnisse Mangelware sind, ist es ein Katastrophenszenario. „Sie sind gefangen in einem Teufelskreis aus Bevölkerungswachstum und Armut“, heißt es in einer Studie, die das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung anlässlich des Weltbevölkerungstages, der an diesem Montag begangen wird, veröffentlicht hat.
Weltbevölkerung: Geldtransfers für die Ärmsten
Hoffnung wecken da Systeme der sozialen Sicherung, deren Aufbau Regierungen in Subsahara-Afrika seit einigen Jahren vorantreiben – oft von internationalen Gebern wie der Weltbank finanziert.
Bislang profitieren laut dem Report nur 13,7 Prozent der Bevölkerung in Subsahara-Afrika von mindestens einer Leistung der sozialen Sicherung – denn die meisten Menschen arbeiten in informellen Jobs, zahlen keine Steuern und haben daher auch keinen Anspruch auf eine Rente oder eine Krankenversicherung.
Trotzdem führen Sozialleistungen wie Geldtransfers auch indirekt dazu, dass die Geburtenrate mittelfristig sinkt. Untersucht haben die Fachleute des Berlin-Instituts das an den Beispielen einer Reihe von Ländern, in denen ein Großteil der Familien, die in extremer Armut leben, Geldtransfers bekommen.
In Tansania beispielsweise erhalten alle armen Haushalte sechs Dollar pro Monat. Hinzu kommt eine Zahlung für Familien mit Kindern oder älteren Personen, die sich je nach Region auf bis zu 14,70 Dollar belaufen kann. Beide Unterstützungen können miteinander kombiniert werden.
Weltbevölkerung: Sansibar macht es mit einer Grundrente vor
Auch wenn die Sozialleistungen nicht immer verlässlich fließen und eigentlich noch höher ausfallen müssten, erkennt der Report des Berlin-Instituts eine Wirkung. Die Programme trügen dazu bei, dass die Kinder von Paaren, die das Geld erhalten, gesünder seien, länger eine Schule besuchten und Mädchen später heirateten. „Mit steigender Bildung wachsen die Möglichkeiten für junge Frauen, selbstbestimmt und gleichberechtigt zu entscheiden, wie sie ihr Leben führen wollen“, sagt Studienautorin Lorena Führ. „In der Regel bringen sie dann später und insgesamt weniger Kinder zur Welt.“
WELTBEVÖLKERUNG
Am 11. Juli ist Weltbevölkerungstag. Er wird seit 1989 begangen, um auf die Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung aufmerksam zu machen. Aktuell leben mehr als 7,9 Milliarden Menschen auf der Erde - und damit so viele wie noch nie. Am 15. November könnte die Marke von acht Milliarden geknackt werden, wie die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW) anlässlich des Weltbevölkerungstags am Montag mitteilte. Sie berief sich dabei auf Daten der UN.
Die Wachstumsrate ist laut den UN erstmals seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1950 auf unter ein Prozent pro Jahr zurückgegangen. Sie liege aktuell bei 0,8 Prozent. Die DSW sieht allerdings noch keine Trendumkehr in Sachen Bevölkerungswachstum. In absoluten Zahlen nehme die Weltbevölkerung weiter zu.
Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und globaler demografischer Veränderungen beschäftigt. Die Studie „Sicher durchs Leben“ wurde vom Bundesentwicklungsministerium gefördert: www.berlin-institut.org tos
Wirkung zeigt beispielsweise auch das Projekt Grundrente in Sansibar. Die Provinzregierung der zu Tansania gehörenden Inselgruppe ist in sozialpolitischen Fragen unabhängig und zahlt seit 2016 allen Menschen über 70 eine Grundrente von 8,70 Dollar. Eine erste Evaluierung habe gezeigt, dass die Zahlung für 70 Prozent der Befragten die wichtigste Einkommensquelle ist. Die vollständig von der Inselregierung getragene Leistung koste Sansibar 0,24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Die Grundrente sorgt nach Ansicht der Forscher:innen des Berlin-Instituts dafür, dass Ältere nicht mehr auf die Unterstützung von möglichst vielen Kindern und Enkeln angewiesen sind – auch das könnte dann einen Effekt auf die Geburtenrate haben. Das Beispiel Sansibars macht mittlerweile Schule. Kenia hat das Modell 2018 übernommen.
Valide Zahlen über Wirkungen von sozialen Sicherungssystemen liegen bereits für Ruanda vor. Das ostafrikanische Land hat binnen zehn Jahren 95 Prozent der Bevölkerung in eine gemeindebasierte Krankenversicherung einbezogen. Im selben Zeitraum ist die Mütter- und Kindersterblichkeit um 30 Prozent gesunken, schreiben die Expert:innen des Berlin-Instituts. „Überall dort, wo Kinder infolge einer besseren medizinischen Versorgung höhere Überlebenschancen haben, entscheiden sich die ein bis zwei Generationen später für weniger Nachwuchs.“
Weltbevölkerung: Staaten sollten Instrumente der sozialen Absicherung stärker nutzen
Ghana verfolgt eine ähnliche Strategie und verknüpft Geldtransfers für die Ärmsten mit kostenlosen Gesundheitsdiensten. „Statt das Geld für Arztbesuche und Medikamente auszugeben, können sie es in den Schulbesuch ihrer Kinder und in Essen investieren“, sagt Führ. „Das verstärkt die Wirkung der Transfers auf die Kinderzahlen.
In Malawi gehören kostenlose Schulmahlzeiten, öffentliche Beschäftigungsprogramme und die Unterstützung informeller Spargruppen zur nationalen Strategie.
Die Datenlage von sozialer Sicherung als Einflussfaktor auf die Kinderzahlen sei insgesamt noch begrenzt, schränkt das Berlin-Institut ein. „Dennoch zeigt die Analyse das Potenzial von sozialer Sicherung, den demografischen Wandel zu beschleunigen, sagt Institutsleiterin Catherina Hinz. Deshalb sollten Sozial-, Renten- oder Krankenversicherungen als bevölkerungspolitische Instrumente künftig stärker beachtet werden.
Besonders im Blick auf die „große Jugendgeneration, die jetzt auf den Arbeitsmarkt strömt“, müssten afrikanische Regierungen vor allem Sozialversicherungen für junge Erwachsene auf- und ausbauen. „Ob sie sich bei Krankheit, Verlust des Jobs oder im Alter absichern können, wird sich nicht nur auf ihre Zukunftschancen, sondern auch auf ihre Familienplanung auswirken“, sagt Hinz.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit solle die Partnerländer in Afrika dabei unterstützen, ihre Systeme der sozialen Sicherung auszubauen und ihre Programme besser zu koordinieren, empfiehlt das Institut unter anderem. Wenn unterschiedliche Ansätze – etwa Geldtransfers zur Absicherung für arme Haushalte zusammen mit einer kostenlosen Krankenversicherung – kombiniert und verzahnt würden, habe das ein weitaus größeres Potenzial, eine soziodemografische Wirkung zu erzielen, so Studienmitautorin Lilian Beck.
