UN-Experte warnt vor Folgen des Ukraine-Kriegs: „Hungersnot schlimmer als in Somalia oder im Sudan“

Die Ukraine und Russland sind die größten Weizen-Exporteure weltweit. Wegen des Kriegs drohen nun riesige Ernteausfälle - mit schlimmen Folgen für die ärmsten Länder Afrikas.
Frankfurt – Die Welternährungsorganisation FAO hat vor den möglichen Folgen des Ukraine-Kriegs* gewarnt. Angesichts massiver Ernteausfälle bei Weizen in der Ukraine und der russischen Exportstopps für Getreide und Dünger drohten Hungersnöte, „die große Regionen der Erde betreffen und mehrere Länder weltweit“, warnte der Leiter des Globalen Informations- und Frühwarnsystems für Ernährung und Landwirtschaft (GIEWS), Mario Zappacosta im Interview.
Die Frankfurter Rundschau sprach mit dem Ökonomen über die angespannte Versorgungslage, die Gefahr von sozialen Unruhen sowie die einschneidenden Veränderungen bei Hilfsgeldern.
Mario, die Ukraine und Russland stehen für 30 Prozent der weltweiten Weizen-Exporte. Viele afrikanische Staaten decken einen Großteil ihres Weizenbedarfs aus diesen beiden Ländern. Doch wegen des Kriegs können die Bauern in der Ukraine nicht säen. Gleichzeitig hat Russland einen Ausfuhrstopp für Weizen sowie andere Getreide-Arten und für Dünger verhängt - und der FAO-Index für Grundnahrungsmittel ist auf Rekordniveau. Wie beunruhigt sind Sie?
Wir sehen die Entwicklung in der Tat mit sehr großer Sorge. Aber das liegt nicht am Krieg allein. Die meisten Probleme bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln in vielen ärmeren Ländern etwa in Afrika bestanden schon vor Kriegsausbruch, denken Sie nur an die Preise am Weltmarkt: Schon 2020 und 2021 lagen die Notierungen für Nahrungsmittel auf Rekordniveau. Das hat sich seit Jahresbeginn so fortgesetzt und seit dem Kriegsausbruch sogar noch mal beschleunigt. Allein im März ist der FAO-Sub-Index für Getreide um 24,9 Prozent gegenüber dem Februar gestiegen, beim Sub-Index für Speiseöl ging es binnen Monatsfrist um 23,2 Prozent nach oben. Einen ähnlich drastischen Anstieg auf breiter Front haben wir seit der Einführung des FAO-Lebensmittel-Index 1990 noch nicht erlebt.
Zumindest bei Weizen war die Versorgungslage wegen der schwächer als erwarteten US-Ernte aber bereits zuvor angespannt?
Ja. Jetzt wird es noch enger. Im laufenden Jahr werden auf dem Weltmarkt wegen des Kriegs in der Ukraine rund zehn bis zwölf Millionen Tonnen Weizen fehlen. Daher müssen wir uns wohl auf weiter steigende Preise einstellen.
FAO-Experte: Jemen und Libanon drohen schlimme Hungersnöte
Welche Länder werden die Folgen des Liefer-Ausfalls aus der Ukraine und Russland besonders zu spüren bekommen?
Das wird vor allem die Länder in Nordafrika und im Nahen Osten treffen, aber auch die Länder am Horn von Afrika, also Somalia, Äthiopien, Sudan oder Eritrea. Diese Länder hatten in der Vergangenheit wegen extremer Trockenheit, lokalen Konflikten und zuletzt der Covid-Pandemie ohnehin bereits mit enormen Probleme bei der Nahrungsversorgung zu kämpfen. Mit den heftigen Preisanstiegen am Weltmarkt und den Folgen des Ukraine-Konflikts verschärft sich die Lage jetzt noch einmal deutlich.
Wen dürfte es am stärksten treffen?
Wir sehen die größten Gefahren im Jemen und im Libanon.
Warum?
In beiden Ländern basiert die Ernährung sehr stark auf Weizen. Zudem hatten beide Staaten bereits vor dem Kriegsausbruch mit sehr großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Im Jemen tobt seit Jahren ein schlimmer Bürgerkrieg, Unterernährung ist dort weit verbreitet. Mit den Lieferengpässen und den hohen Weizenpreisen könnte die grassierende Unterernährung jetzt zu einer schlimmen Hungersnot führen.
Der Libanon steckt in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Landeswährung ist gegenüber anderen wichtigen Währungen wie dem US-Dollar abgestürzt. Das hat die Importe bei Getreide und Lebensmitteln bereits stark verteuert. Dazu kommt, dass das zentrale Weizenlager im Hafen von Beirut bei einer riesigen Explosion im August 2020* vollständig zerstört wurde. Aktuell kann der Libanon Weizen für gerade noch zwei Monate lagern. Deshalb muss das Land jetzt kontinuierlich Weizen auf dem Weltmarkt nachkaufen – und das bei hohen und weiter steigenden Preisen.
Wie viele Menschen könnten unter den Lieferengpässen bei Weizen besonders leiden?
Wir gehen bei der FAO davon aus, dass alleine durch die Ukraine-Krise weltweit weiteren acht bis 13 Millionen Menschen Unterernährung droht.

Zur Person
Mario Zappacosta ist Wirtschaftswissenschaftler und Leiter des Globalen Informations- und Frühwarnsystems für Ernährung und Landwirtschaft (GIEWS) bei der Welternährungsorganisation (FAO) der UN in Rom. Das GIEWS überwacht Angebot und Nachfrage bei Lebensmitteln weltweit. Zappacosta hat zahlreiche FAO-Missionen in verschiedenen, von Ernährungskrisen betroffenen Ländern geleitet, darunter in Syrien, Sudan, Jemen und Nordkorea.
FAO-Experte: Preisanstieg bei Düngern wird Versorgungslage in ärmeren Ländern weiter verschärfen
Nun steigen ja nicht nur die Nahrungsmittelpreise weltweit. Auch Dünger wird immer teurer. Wie gefährlich ist diese Entwicklung für die ärmsten Länder weltweit?
Das ist ein Riesen-Problem. Die Produktion von Düngern ist sehr energie-intensiv und die Preise für Öl und Gas sind zuletzt ebenfalls stark gestiegen. Damit dürften auch die ohnehin bereits historisch hohen Preise für Dünger weiter anziehen. Viele Bauern in den ärmeren Ländern werden sich Dünger damit kaum noch leisten können und weniger anbauen oder genauso viel anbauen wie zuvor, aber weniger Ertrag erzielen. Das gilt ja nicht nur für den Weizenanbau, sondern für alle Arten von landwirtschaftlichen Nutzpflanzen, ob Gemüse, Futterprodukte oder Reis.
Die Lage ist also besorgniserregend?
Wir haben in den vergangenen Jahren mehrere Hungersnöte gehabt in Somalia, im Sudan und anderen Ländern. Aber das waren Krisen auf nationaler Ebene. Unsere Sorge ist, dass wir es wegen der Auswirkungen des Ukraine-Kriegs demnächst mit einer Krise von erheblich größerer Tragweite zu tun haben könnten, die große Regionen der Erde betrifft und mehrere Länder weltweit. Ein solches Szenario wird von Tag zu Tag wahrscheinlicher.
In Sri Lanka sind wegen Engpässen bei der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln gerade schwere politische Unruhen ausgebrochen. Auch bei anderen Unruhen wie dem Arabischen Frühling haben steigende Preise bei Grundnahrungsmitteln eine zentrale Rolle gespielt. Droht ein solches Szenario jetzt erneut?
Wir wissen aus der Historie: Wenn die Preise für Grundnahrungsmittel steigen, führt dies häufig zu Unruhen und Aufständen. Natürlich können Regierungen Grundnahrungsmittel mit staatlichen Hilfszahlungen subventionieren oder die Lage auf andere Weise stützen. Aber das hängt stark von den jeweiligen, finanziellen Möglichkeiten ab. Wenn ein Land arm ist, und die Preise am Weltmarkt stark steigen, wird die Lage immer komplizierter. Irgendwann kommt der Punkt, wo sich Regierungen entscheiden müssen: Investieren wir in Infrastruktur, Gesundheit oder Bildung - oder in Nahrungsmittel?
FAO-Experte: Hilfsgelder fließen derzeit vor allem in die Ukraine
Was bedeutet die Entwicklung für humanitäre Hilfen?
Wegen des Krieges fließt derzeit ein erheblicher und wachsender Betrag an öffentlichen und privaten Hilfsgeldern in die Ukraine. Der absolute Betrag der Hilfsgelder steigt aber nicht, das Geld fließt jetzt nur woanders hin. Nehmen Sie das Beispiel Somalia: Das Land hat mehrere Milliarden an Hilfsgeldern beantragt, aber bisher nur einen Bruchteil davon erhalten.
Die Welt vergisst also die ärmsten Länder wegen der aktuellen Krise in der Ukraine?
Das ist keine neue Entwicklung. Etwas Ähnliches haben wir auch während des Syrien-Kriegs erlebt. Wenn mehr Geld in die Ukraine geht, kommt beispielsweise weniger im Südsudan an – ohne, dass sich die Lage im Südsudan in den vergangenen Jahren überhaupt gebessert hätte.
Was heißt das für die Menschen vor Ort: Werden wieder mehr Menschen ihrer Heimat den Rücken kehren und Zuflucht in anderen Ländern suchen, auch in Europa?
Kriege und Hungersnöte haben in der Vergangenheit regelmäßig zu Fluchtbewegungen geführt. Eine mögliche Verschlechterung der Nahrungsmittelversorgung sowie wachsende soziale Spannungen dürften auch zu verstärkter Migration führen.
Was könnten Deutschland und die EU tun, um zu helfen?
Reiche Länder helfen bereits auf unterschiedlichsten Wegen. Die EU, aber auch einzelne Länder wie Italien oder Deutschland, haben zahlreiche Hilfsprogramme aufgelegt oder unterstützen NGOs, andere humanitäre Hilfsorganisationen sowie die UN. Aber richtig ist auch, dass vor 20 Jahren deutlich mehr Hilfsgelder zur Verfügung standen als heute. Während der Corona-Pandemie* hat sich diese Entwicklung noch mal besonders deutlich gezeigt. Da waren alle reichen Länder in der Rezession und haben sich wegen des Lockdowns damals vor allem darauf konzentriert, ihre eigene Wirtschaft zu stützen. Da hat kaum jemand an die Bauern in Somalia gedacht.
Aber noch mal: Was müsste konkret passieren, damit sich die Lage in den ärmsten Ländern wenigstens ein bisschen verbessert?
Ein wichtiger Ansatz wäre sicher ein besserer und sorgsamerer Umgang mit Lebensmitteln. In reicheren Ländern kaufen wir häufig mehr als wir überhaupt essen können und dann verkommen viele Lebensmittel im Kühlschrank. In ärmeren Ländern geht auf dem Weg vom Feld bis zum Markt eine Menge Produktion verloren, allein schon, weil der Transport zu lange dauert, und die Produkte unterwegs verderben. Da fehlen schnell von 25 bis 30 Prozent der Erntemenge. Der zweite zentrale Punkt wären Investitionen in die Infrastruktur. In vielen ärmeren Ländern würde beispielsweise bereits der Bau von Straßen helfen, damit Farmer ihre Produkte auf weiter entfernten Märkten verkaufen könnten. Und drittens – und mindestens ebenso bedeutsam – wären zusätzliche Investitionen in Bildung und Know-how, etwa zu neuen Technologien im Anbau. Diese Hebel würden allesamt spürbare Verbesserungen bringen.
(Interview: Thomas Schmidtutz) *merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.