Tierwohl: Mehr als nur eine Frage der Haltung

In Kürze wird Agrarminister Cem Özdemir seine Pläne für ein staatliches Tierwohl-Label vorstellen. Kritische Stimmen bemängeln: Mehr Tierschutz werde es nicht bringen.
Das erste staatliche Tierwohl-Label feierte gerade seinen fünften Geburtstag: Ein Sechseck, angelehnt an das Bio-Siegel, mit schwarz-rot-goldenen Streifen und der Inschrift „Mehr Tierwohl“. Bundesagrarminister Christian Schmidt stellte es Anfang 2017 vor, es war das Prestigeprojekt des CSU-Politikers – und es scheiterte. Kein Stück Fleisch im Handel zierte das Label jemals.
Nun also ein neuer Anlauf. Schon bald dürfte der amtierende Minister Cem Özdemir (Grüne) seinen Vorschlag für ein Tierwohl-Kennzeichen präsentieren. In den ersten zehn Junitagen solle es in die Abstimmung mit den anderen Ministerien gehen, kündigte Özdemirs Staatssekretärin Silvia Bender jüngst an.
Einerseits sind die Voraussetzung besser als 2017. Schmidt scheiterte damals bereits innerhalb der eigenen Fraktion an den Kriterien für „Tierwohl“, das mehr Marketingbegriff als wissenschaftlich definierte Größe ist. Auch CDU-Ministerin Julia Klöckner, Schmidts Nachfolgerin, versuchte sich an einem staatlichen Kennzeichen, und auch sie scheiterte: Während die Unionsparteien ein freiwilliges Label bevorzugten, drängte die SPD auf ein verpflichtendes Modell. Darauf haben sich die Ampelparteien bereits in ihrem Koalitionsvertrag verständigt. „Ab 2022“, heißt es darin, werde „eine verbindliche Tierhaltungskennzeichnung“ eingeführt.
Tierwohl-Label: Konzerne haben eigene Kennzeichnung
Andererseits aber muss Özdemir damit umgehen, dass mittlerweile die Handelskonzerne eine eigene „Haltungsform-Kennzeichnung“ etabliert haben: Seit April 2019 teilt sie Frischfleisch im Supermarkt in die Stufen 1 (gesetzlicher Mindeststandard) bis 4 (für Bioware und Fleisch von Tieren mit mehr Stallplatz und Auslauf im Freien). Zwischenzeitliche Überlegungen aus dem Agrarministerium sahen vor, diesen Ansatz für das staatliche Label über den Haufen zu werfen und nach dem Vorbild der Eierkennzeichnung eine Bewertung von 0 bis 3 einzuführen. Dabei würde, genau umgekehrt also, die 0 als niedrigster Wert für die beste Stufe stehen. Nach heftiger Kritik sind die Überlegungen dem Vernehmen nach aber vom Tisch.
Erwartet wird, dass Özdemir mit einem Label für Schweinefleisch beginnt und Kriterien zunächst nur für Mastschweine festlegt, die die Stallgestaltung und Auslaufflächen berücksichtigen und Bio als beste Haltungsform ausweisen. Womöglich sogar als eigenständigen Goldstandard: Während die Grünen-Politikerin Renate Künast zuletzt öffentlich über vier Stufen (wie beim Modell des Handels) sprach, kursiert in Fachkreisen das Gerücht, dass Özdemir eine fünfte Stufe vorschlagen könnte, die allein für Biofleisch reserviert sei. Völlig offen scheint, ob in absehbarer Zeit neben dem Einzelhandel auch die Gastronomie oder Hersteller von Produkten mit verarbeitetem Fleisch einbezogen werden.
Tierwohl: Auch in Bio-Ställen gibt es Probleme
Mit Spannung erwartet wird, ob und wie sich das staatliche Modell in das vom Handel etablierte System einfügt – mit dem keineswegs alle glücklich sind. Verbraucherzentralen bemängeln, dass es sich nur auf formale Haltungskriterien beschränke und keine Aussage darüber treffe, wie gut es den Tieren gehe. Tatsächlich leiden Nutztiere unabhängig von der Größe eines Betriebs oder Stalls an zahlreichen sogenannten Produktionskrankheiten – auch bei Bio. Entsprechende Befunde werden in manchem Betrieb bei mehr als der Hälfte der Tiere nachgewiesen. Solange „Tierwohl“ nur die Haltungsform ausweist, bleiben solche Daten unberücksichtigt.
Auch aus der Branche kommt Kritik: Noch im Juni will die Metzgereikette „Wurst Esser“ ein eigenes Kennzeichen – die „Tierwohlpunkte“ – an den Start bringen. Das Modell soll als Siegel der Direktvermarkter und Handwerksbetriebe etabliert werden. Denn dass sich diese bei der von Lidl & Co. etablierten Haltungskennzeichnung beteiligen, ist im System der Handelsunternehmen bisher nicht vorgesehen. Firmenchef Max Esser kritisiert es daher als „Label der Konzerne“. Von Özdemirs Siegel erwartet er, dieses Modell im Wesentlichen zu „kopieren“ und Handwerksbetriebe zu benachteiligen. Die Kriterien für Essers nach oben hin offenes Punktesystem umfassen erstmalig auch die Tiergesundheit.
Woher kommt das Geld für mehr Tierwohl?
Darin und nicht in der Haltungsform sehen auch führende Tierärzte die wichtigste Voraussetzung für „Tierwohl“. Siegel seien zwar „nett“, sagt Thomas Blaha, stellvertretender Vorsitzender der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz, aber „ein stumpfes Schwert, um den Tierschutz wirklich voranzubringen“. Die Siegel könnten nur den heutigen Zustand in der Tierhaltung abbilden, so Blaha, verleiteten Landwirte aber nicht zu den nötigen Investitionen für Verbesserungen. Der Grund: Es fehle an Sicherheit, für ihre Produkte auch zuverlässig mehr Geld zu bekommen.
Der erste Schritt müsse sein, die bestmögliche Tiergesundheit zu erreichen: „Dazu sollten wir fortlaufend Tierwohlkriterien erfassen, zum Beispiel die Mortalitätsraten in den Herden, und die Betriebe mit Tierwohlmängeln darauf verpflichten, sich hier zu verbessern“, sagte Blaha der FR. „Wenn wir die Tiergesundheit in allen Tierbeständen auf einem hohen Stand haben, können wir dann auch ein Haltungskennzeichen für die Produkte einführen.“ Für einen dauerhaft nachhaltigen Tierschutz seien zudem „mindestens drei Milliarden Euro“ nötig – „und zwar nicht einmalig, sondern jährlich, weil die Tierhalter höhere Kosten haben werden und dafür einen Ausgleich zu den Weltmarktpreisen brauchen“.
Woher kommt das Geld für mehr Tierschutz? Das ist die nächste Aufgabe für Minister Özdemir – eine ungleich größere als die Ausgestaltung eines Siegels. (Martin Rücker.)