Ungeschminkte Realität: Kinderarbeit für unsere Kosmetik

Für den Abbau von Rohstoffen, die auch in Kosmetika stecken, müssen in Indien und Madagaskar zehntausende Kinder schuften.
Mica-Minerale sorgen für Glanz und Glimmer. Sie finden sich deshalb nicht nur in Kosmetik und Karnevalsschminke, sondern auch in Farben und Lacken, Zahnpasta und Badeseifen. Werden in Smartphones, Laptops und Haushaltsgeräten verarbeitet. Doch der schöne Schein, den Minerale wie Muscovit, Alurgit oder Fuchsit schaffen, hat seine Schattenseite. Für den makellosen Glanz müssen in Indien und Madagaskar Zehntausende Mädchen und Jungen schuften, wie Studien zeigen, auf die das Hilfswerk Terre des Hommes (TDH) im Blick auf den Welttag gegen Kinderarbeit am 12. Juni aufmerksam macht.
Mica-Minerale werden in 35 Ländern geschürft, darunter auch in Industriestaaten wie Kanada, Finnland und Russland. Die größten Exporteure aber sind Madagaskar und Indien. Die beiden ostindischen Bundesstaaten Bihar und Jharkhand liefern allein 25 Prozent des weltweit verbrauchten Micas. Nach Schätzungen lokaler Organisationen sind dort rund 300 000 Menschen vom Abbau der Minerale abhängig.
Schon Vierjährige arbeiten mit
Schon vor der Pandemie hätten rund 22 000 Kinder mitarbeiten müssen. Aktuell seien es infolge der Lockdowns deutlich mehr, so TDH. Covid-19 verschärfe die Lage der Familien dramatisch. Oft fällt die finanzielle Unterstützung von Angehörigen weg, die in anderen Regionen als Tagelöhner:innen gearbeitet haben, jetzt aber ohne Job sind. Und bleiben die Schulen wegen Covid-19 geschlossen, müssen die Kinder auch die Mahlzeiten entbehren, die es dort normalerweise gibt.
All das treibt nach Angaben von TDH immer mehr Kinder in den Bergbau. Die Jüngsten, die Mica schürfen, seien gerade einmal vier Jahre alt. Die Arbeitsbedingungen in den meist illegalen Minen sind dabei extrem gefährlich. Die Minerale werden aus selbst gegrabenen Löchern und Tunneln geholt, die bis zu 20 Meter tief und nicht gesichert sind. Immer wieder brechen Gänge ein, werden Kinder und Erwachsene verschüttet und kommen zu Tode. Schon Minderjährige erkranken an Staublunge, sind unterernährt, dehydriert und leiden unter Blutarmut, berichtet die Kinderrechtsorganisation.
Bis zu zwölf Stunden müssten die Kinder mit ihren Eltern schuften – und das für einen Hungerlohn. Vor der Pandemie habe eine Familie mit dem Verkauf ihrer Tagesproduktion etwa 100 Indische Rupien (rund 1,10 Euro beziehungsweise 1,40 Dollar) erzielen können. Zurzeit nutzten Aufkäufer die Not aus und zahlten noch weniger. Damit liegt der Verdienst weit unterhalb der von der Weltbank definierten Grenze für extreme Armut von 1,90 Dollar pro Tag und Person.
„Kinder gehören in die Schule“
Unter ähnlich prekären und gefährlichen Bedingungen schuften auch Kinder in Madagaskar. Auf der Insel im Indischen Ozean entdeckten Forscher:innen im Auftrag der TDH-Sektion Niederlande 2019 in 14 Minen Mädchen und Jungen. Während die Erwachsenen Schächte ausheben und Tunnelsysteme anlegen, schleppen Kinder das Gestein mit den Mineralen ans Tageslicht. Laut dem TDH-Bericht zahlen die Aufkäufer je nach Qualität des Micas für den Tagesertrag eines Erwachsenen umgerechnet zwischen 27 Cent und drei US-Dollar.

„Diese Form der Kinderarbeit muss beendet werden“, fordert Birte Kötter, Vorstandssprecherin von TDH Deutschland. Dafür müssten erwachsene Mica-Schürfer faire Löhne erhalten, von denen die Familien leben können. „Kinder gehören in die Schule und nicht in Minen“, erklärte Kötter.
Schufterei im Bergbau ist eine der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, wie sie die Konvention 182 der International Labour Organization (ILO) definiert. Sie ist damit in allen Staaten der Welt verboten. In Indien untersagt der „Child and Adolescent Labour Prevention and Regulation Act“ ausdrücklich die Beschäftigung von Kindern im Bergbau. „Die Behörden müssen die Schürfplätze kontrollieren und die Betreiber zur Verantwortung ziehen“, fordert Kötter.
Aber auch international tätige Unternehmen sieht TDH in der Pflicht. Hersteller und Handel müssten klären, wo genau ihre Rohstoffe herkommen, und „sicherstellen, dass grundlegende Arbeitsrechte und Sicherheitsstandards umgesetzt werden“, so das Kinderhilfswerk.
Das Lieferkettengesetz, das der Bundestag am Freitag beschließen will, soll größere Unternehmen verpflichten, menschenrechtliche Risiken bei ihren direkten Geschäftspartnern zu identifizieren und dagegen anzugehen. Auf dieser ersten Stufe der Lieferkette werden deutsche Firmen aber keine Kinderarbeit entdecken. Handelt es sich dabei doch um Produzenten von Kabeln oder Kosmetik, die weit weg von den Schürfplätzen in Indien und Madagaskar operieren. Allerdings, so der bis zuletzt umstrittene Entwurf für ein Gesetz, sollen Unternehmen auch aktiv werden müssen, wenn ihnen Berichte von Menschenrechtsverstößen auf tieferen Stufen der Lieferkette zur Kenntnis gelangen. „Was sich bei der Gewinnung der Rohstoffe in den Minen in Madagaskar und Indien abspielt, dürfte allen Akteuren bekannt sein“, sagt TDH-Kinderrechtsexpertin Barbara Küppers.
Freiwillige Initiative der Industrie
Immerhin hat sich 2017 in Paris die Responsible Mica Initiative (RMI) formiert, der als Gründungsmitglied auch Terre des Hommes angehört. Ziel von RMI ist es, weltweit Standards für den Mica-Abbau zu entwickeln, die Sicherheit, faire Arbeitsbedingungen und Mindestlöhne garantieren, - und vor allem auch, die Kinderarbeit zu beenden. Mitglied der Initiative sind bereits Unternehmen wie H&M, L’Oréal, Merck, BASF, Sephora, The Body Shop und Daimler. Im vergangenen November hat sich auch Porsche angeschlossen. „Von unseren Lieferanten verlangen wir die Einhaltung international anerkannter sozialer und ökologischer Standards“, begründete Uwe-Karsten Städter, Vorstand Beschaffung bei Porsche, damals den Schritt. „Mit unserem Engagement übernehmen wir Verantwortung für unseren Einfluss auf die Abbauregionen in Indien.“
Da Mica-Minerale meist nur in Kleinstmengen in den Produkten verarbeitet werden, sei es wichtig, dass sich möglichst viele Unternehmen an der Initiative beteiligen. „Nur so können wir die nötige Hebelwirkung entfalten“, sagt Barbara Küppers.
Auf der Liste der RMI-Mitglieder allerdings fehlen noch große Unternehmen, die Mica-Minerale in vielen ihrer Produkte verwenden. Siemens beispielsweise. Eine Anfrage, warum sich der Münchner Industriekonzern bislang nicht in der Initiative engagiert, blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Kinderarbeit
Der 12. Juni ist der Welttag gegen Kinderarbeit. Zu diesem Datum veröffentlicht die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) jährlich aktuelle Zahlen zu arbeitenden Mädchen und Jungen. Im aktuellen Report geht die ILO davon aus, dass die Zahl der Kinder, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, infolge von Covid-19 erstmals seit 20 Jahren wieder gestiegen ist.
Nach Schätzungen der ILO gab es im Jahr 2020 rund 160 Millionen Kinder zwischen fünf und 17 Jahren, die unter Bedingungen arbeiten, die ihre Entwicklung, Bildung und Gesundheit gefährden. Das sind 8,4 Millionen mehr als noch 2017. Etwa die Hälfte der 160 Millionen Mädchen und Jungen wird in den „schlimmsten Formen der Kinderarbeit“ – beispielsweise im Bergbau – ausgebeutet. Bis Ende 2022 befürchtet die ILO aufgrund der Pandemie-Folgen einen weiteren Abstieg der Kinderarbeiter um 8,9 Millionen.
Mit der Agenda für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen haben sich 2015 fast alle Staaten der Welt darauf geeinigt, bis zum Jahr 2025 alle Formen der Kinderarbeit zu überwinden.
Das Hilfswerk Terre des Hommes (TDH) ist mit Unterstützung des Bundesentwicklungsministeriums im Rahmen der Kampagne „Wir stoppen Kinderarbeit“ in 60 Dörfern in den ostindischen Mica-Abbaugebieten aktiv. Ziel des Projektes ist es, Kinder (wieder) in die Schulen zu integrieren und Frauen auszubilden, damit sie sich andere Einkommensquellen erschließen können. TDH fordert von der indischen Regierung, die Mica-Minen zu legalisieren. Dann müssten die Behörden die Arbeitsbedingungen überwachen.
Mica ist der Sammelbegriff für 37 Minerale, die in unzähligen Produkten für unterschiedliche Zwecke genutzt werden. Sie isolieren Hitze und Strom, verstärken Materialien, schützen vor UV-Strahlung und schimmern. Am häufigsten werden Muscovit und Phlogovit verwendet.
Auch viele Kosmetikprodukte , Duschgels und Kinderzahnpasta enthalten Mica. Verbraucher:innen können das auf der Liste der Inhaltsstoffe an der INCI-Nummer CI 77019 erkennen. Ob die Minerale unter fairen Bedingungen und ohne Kinderarbeit geschürft wurden, lässt sich nicht feststellen.
Ein Siegel , das „sauberes“ Mica zertifiziert, gibt es bislang nicht. Konsument:innen bleibt nur, Handel und Hersteller über die Kontaktformulare der Unternehmen direkt nach der Herkunft der verwendeten Minerale zu fragen – und danach, wie das Unternehmen sicherstellt, dass keine Kinderarbeit im Spiel ist. tos