Generalsanierung: Bahnstrecke Frankfurt-Mannheim macht den Anfang

Bund und Bahn wollen die Sanierung von wichtigen Strecken komplett neu organisieren. Den Anfang macht die Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim.
Frankfurt - An Superlativen mangelt es nicht bei dieser besonderen Fahrt des Regionalexpress 70 von Frankfurt nach Mannheim. Als „Hauptschlagader“ bezeichnet Berthold Huber, der für Infrastruktur zuständige Vorstand des Schienenkonzerns, die Riedbahn. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) bleibt im Bild und spricht von der „Aorta“ des Netzes. Und auch die „berühmteste Bahnstrecke Deutschlands“ wird als Charakterisierung des Fahrtweges im vorderen Teil von Zugnummer 4569 bemüht.
Den gibt es normalerweise gar nicht. Denn jenseits der Hauptverkehrszeiten am Morgen und Abend verkehren die modernen roten, doppelstöckigen Triebwagen der Deutschen Bahn nur als kompakte Kurzfassung. Diesmal aber ist der RE, der um 13.12 Uhr in der Mainmetropole startet, in doppelter Stärke unterwegs. Mit besonderen Fahrgästen. Und in besonderer Mission.

Denn seit Wissing und Huber im vergangenen September eine „Generalsanierung“ der Riedbahn angekündigt haben, brodelt es vor allem in der Metropolregion Rhein-Neckar. Vorlaufende Arbeiten mit Sperrungen in der Nacht und gelegentlicher eingleisiger Verkehrsführung geben dort einen Vorgeschmack auf das, was nach der Fußball-Europameisterschaft im kommenden Jahr noch viel heftiger kommen wird: Fernzüge machen einen großen Bogen um Mannheim. Am anderen Ende der Strecke, im Rhein-Main-Gebiet, werden die bevorstehenden Einschränkungen noch eher als eines von vielen Bahnprojekten wahrgenommen. Das könnte eine Fehleinschätzung sein.
Bahnstrecke Frankfurt-Mannheim für fünf Monate voll gesperrt
Der Plan von Verkehrsministerium und Bahn-Management hat es tatsächlich in sich: Fünf Monate lang soll vom Sommer 2024 an jene Route, eben noch einhellig als lebenswichtig beschrieben, komplett gesperrt werden. Das Prinzip der „Generalsanierung“: Die Strecke wird fast komplett abgerissen und von Grund auf neu aufgebaut.
Die Sanierung
Die Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim ist die erste Strecke, die nach dem Konzept einer fünf Monate dauernden Generalsanierung vollständig erneuert wird.
Folgende Arbeiten sind vorgesehen: Die Deutsche Bahn wird 117 Kilometer Gleise austauschen, 152 Weichen und 140 Kilometer Oberleitung. Sie ersetzt auf zehn Kilometern Lärmschutzwände sowie 1200 Elemente der Leit- und Sicherungstechnik wie Sensoren oder Signale. Es entstehen drei weitere Überholmöglichkeiten, und an einigen Weichen und Kurven werden höhere Geschwindigkeiten möglich.
Gebaut wird vom 15. Juli 2024 an – und zwar Tag und Nacht. Die Kosten: rund 500 Millionen Euro.

Viele dieser Arbeiten geht die Bahn bisher erst an, wenn die jeweiligen Bestandteile am Ende ihrer realen oder buchhalterischen Lebenszeit stehen. Das führt zu immer neuen Baustellen und Einschränkungen an gleichen Stellen. Die radikale Bündelung soll das ändern. Und in den fünf bis zehn Jahren nach der großen Sperre ein weitgehend störungsfreies Reisen ermöglichen – das zumindest ist das Versprechen, das Bahn-Vorstand Huber während der Tour im RE70 abgibt, um die betroffenen Regionen zu besänftigen.
Um den Plan umzusetzen, muss Wissing steuerrechtliche Vorgaben ändern. Gelingt das Projekt, soll die Riedbahn zur Blaupause werden für weitere Ertüchtigungen zentraler Strecken – der „Hochleistungskorridore“, wie der Minister formuliert.
Fest im Blick für das Jahr 2025 sind die Strecken Hamburg – Berlin und Emmerich – Oberhausen. Wie es dann weiter geht, ist noch offen. In der Diskussion sind jährlich drei bis vier solcher Generalsanierungen mit fünfmonatigen Sperren – bis einschließlich 2030. Da grundsätzlich nur Abschnitte mit hoher Auslastung in Frage kommen, dürfte es also bis zum Ende des Jahrzehnts bei Bahnreisen über die Hauptrouten immer wieder Einschränkungen geben.
Bahnstrecke Frankfurt-Mannheim: Pendlern stehen fünf harte Monate bevor
Die Großprojekte wirken sich unmittelbar auf das Leben vieler Menschen aus. Eine etwas längere Anreise zum Urlaub, Konzert oder Fußball dürfte dabei das kleinere Problem sein. Anders ist das für jene, die täglich zur Arbeit pendeln. Im südhessischen Ried sind es Zehntausende, die mit dem Zug in die Metropolen um Frankfurt oder Mannheim fahren. Ihnen stehen fünf harte Monate bevor.
Zwar will die Bahn viel Kraft in einen Ersatzverkehr stecken: Das Projektteam plant mit 140 Bussen – und etwa 400 Frauen und Männern, die sie steuern. Doch den meisten Fahrgästen dürften die Alternativen viel Zeit kosten. Der Regionalexpress braucht eine gute Stunde für den direkten Weg zwischen Main und Neckar.

Busse werden sich durch viel befahrene Straßen der Städte und Gemeinden schlängeln müssen – und dürften grob geschätzt doppelt so lange brauchen. Vorausgesetzt, sie halten nicht immer an den Bahnhöfen, sondern an verkehrstechnisch gut gelegenen Punkten.
Denkbar sind Expresstouren, die manche Orte auslassen, und Extrabusse zu den parallel verlaufenden Gleisen entlang der Bergstraße oder auf der anderen Seite des Rheins über Worms und Mainz. Konkretes soll erst im kommenden Frühjahr feststehen. So oder ähnlich wird es auch bei den folgenden Projekten sein.
Nord-Süd-Strecke gilt als Nadelöhr im nationalen und internationalen Bahnverkehr

Der RE70 mit den prominenten Fahrgästen erreicht fünf Minuten später als der aktuelle Baustellenfahrplan vorsieht das südhessische Lampertheim. Das ist, gemessen an den sonst üblichen Zeiten, ordentlich. Dennoch dürften damit die wenigen, in Mannheim noch verkehrenden ICE nicht mehr zu erreichen sein. Zumal der auffällige rote Zug noch ein wenig stehen bleibt auf Gleis 3 als Hintergrundkulisse für Wissing und Huber, die dort von Pressefotografen erwartet werden.
Später, in der Unterführung, riecht es nach Farbe. Die Bahn hatte noch vor dem Termin Graffiti übertünchen lassen, die das Ergebnis einer Aktion der kommunalen Jugendförderung waren.

In Blickweite zum Bahnsteig steht Thorsten Bartholmal in einem turmartigen Gebäude. Vor ihm ein grauer Pult mit Schaltknöpfen und Kontrollleuchten. Als Fahrdienstleiter steuert er im Lampertheimer Stellwerk die Signale für die Schnellzüge, die unterwegs sind in Richtung Kiel und Hamburg, Berlin, Köln, Stuttgart, München, Basel und Zürich, Mailand, Paris und demnächst Bordeaux. Bis zu zehn ICE pro Stunde. Dazu der RE70 und die S-Bahnen zweier Linien – sowie reichlich Güterverkehr. Insgesamt 300 Züge pro Tag.

Die zentrale Nord-Süd-Strecke gilt als Nadelöhr im nationalen und internationalen Bahnverkehr. Läuft dort etwas schief, hat das weitreichende Folgen. Und das ist bislang eher die Regel als die Ausnahme. „Seit Januar gibt es jeden Tag mindestens eine Störung auf dieser Strecke“, räumt Vorstand Huber ein. Die miserablen Pünktlichkeitswerte im Fernverkehr der vergangenen Monate haben zu einem großen Teil hier ihre Ursache. Daher die ungewollte Bekanntheit der Riedbahn.
Schon auf der schmalen Außentreppe des Stellwerks in Lampertheim wird klar: Die Ausstattung hier ist nicht auf dem neuesten Stand. „Ein Relaisstellwerk, Baujahr 1966“, erklärt Philipp Nagl, als DB-Netz-Vorstandsvorsitzender oberster Chef von Bartholmal. Relais, das bedeutet: mechanische Bauteile, die störanfällig sind. Ersatzteile gibt es nicht mehr im Handel; Werkstätten müssen sie selbst anfertigen. Sechs weitere Stellwerke gibt es bisher entlang der Riedbahn, deren Anfänge bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen.

Neuerdings weisen Signale, die mit einem weißen Kreuz als ungültig gekennzeichnet werden, den Weg in die Zukunft. Künftig sollen Züge von drei Stellwerken aus in Gernsheim, Walldorf und Mannheim-Waldhof gesteuert werden – elektronisch und im für Europa einheitlichen Zugsicherungssystem ETCS. Etwa 30 Beschäftigte bekommen einen anderen Arbeitsplatz - und müssen technisch geschult werden.
Thorsten Bartholmal ist nicht sicher, ob er das auf sich nehmen will. Nach mehr als 30 Jahren Dienst an der Riedbahn denkt er an den vorzeitigen Ruhestand. Die Anlage in Lampertheim wird nach der Umstellung von Fachleuten sorgfältig abgebaut – und im Signalwerk in Wuppertal eingelagert, um baugleichen Stellwerken nötige Ersatzteile spenden zu können.
Die prominente Truppe lässt auf ihrem Weg zum Stellwerk das Bahnhofsgebäude von Lampertheim links liegen. Dabei könnte das dreiflügelige, aus Gelbsandstein errichtete Anwesen eine lehrreiche Geschichte erzählen. Sie würde davon handeln, wie unschön es ausgehen kann, wenn der DB-Konzern Empfangsgebäude in private Hände verkauft.
Bahnstrecke Frankfurt-Mannheim: Deutsche Bahn nimmt Bahnhöfe in den Blick

In Südhessen passierte das vor zehn Jahren. Der Besitzer startete Umbauarbeiten – die allerdings schlagartig endeten, als die Stadt dort Spielhallen verbot. Seither verfällt das denkmalgeschützte Haus. Und die Lokalpolitik kommt trotz vieler Anläufe kaum weiter in ihrem Bemühen, das Empfangstor der Stadt einladend zu gestalten. „Das Gebäude ist unschön anzusehen. Aber das gibt der Kommune keine Handhabe zu sagen, jetzt muss etwas geschehen“, sagt Lampertheims Bürgermeister Gottfried Störmer.
„Ein schwieriger Fall“, räumt Stefan Schwinn ein, der sich bei DB Netze im Regionalbereich Mitte um die Stationen kümmert. Zwischen fünf und neun Uhr sind in Lampertheim täglich geschätzt 3500 Menschen unterwegs – viele für den Ersatzverkehr, aber zu wenige, um etwa für den Einzelhandel attraktiv zu sein. Und es gibt kleinere Haltepunkte, an denen ebenfalls Gebäude leer stehen.

Etwa 60 Millionen Euro kann Schwinn verwenden, um die 20 Bahnhöfe entlang der Riedbahn während der Generalsanierung barrierefrei und vorzeigbar zu machen. Neben einem kleinen Designkonzept, das auf Besonderheiten der Region basiert, will er das vor allem mit neuen Dächern, robusten Bänken und mehrzeiligen elektronischen Abfahrtstafeln erreichen.
Und: Es soll ein Budget geben für ein Handwerkerteam, das nach dem Umbau regelmäßig nach dem Rechten sieht. Ein klein wenig sieht es so aus, als sei die eine oder andere Superlative für das Gesamtprojekt doch nicht unangemessen. (Michael Bayer)
Kommentar zum Thema: Es ist konsequent, die Gleise zwischen Frankfurt und Mannheim komplett zu sperren. Für Reisende muss es aber mehr Entschädigung geben.
Die Einzelprojekte
Zusätzliche Überholstellen: Weichen bei Groß Gerau-Dornberg, Riedstadt-Goddelau und Bürstadt sollen möglich machen, häufiger die Gleise zu wechseln. Das ist wichtig, damit Züge bei Störungen oder Bauarbeiten schnell ausweichen können. Zudem dürfen sie so abschnittsweise auf beiden Gleisen in die gleiche Richtung fahren.
Schnellere Kurve: In Biblis müssen Züge abbremsen auf 90 Kilometer pro Stunde. Ein anderer Unterbau und eine neue Weiche sollen dort künftig 100 Kilometer erlauben.
Schnellere Weichen: In Mörfelden und Walldorf bekommen die Weichen zu den Überholgleisen einen anderen Radius. Auch das bringt mehr Tempo.
Weitere Arbeiten: In Frankfurt wird auf der Höhe Louisa ein Bahnübergang technisch besser gesichert. Und vor der Main-Neckar-Brücke erlaubt ein zusätzliches Signal, dass Züge von der Main-Neckar-Bahn parallel zu jenen der Riedbahn rollen können.