Generalstreik in Frankreich: Massenproteste wegen Rente mit 64

Auch am zweiten Streiktag gehen zahlreiche Menschen gegen die Reformpläne der französischen Regierung auf die Straße. Vor allem Frauen befürchten Nachteile.
Paris – Zwei Wochen nach dem ersten Protesttag waren am Dienstag weite Teile des französischen Wirtschaftslebens gelähmt. Nahzüge verkehrten kaum, während TGV-Verbindungen und Flüge etwas weniger betroffen waren. Schulen und Verwaltungen wurden bestreikt; erstmals blieben einzelne Rathäuser ganz geschlossen.
Umso stärker besucht waren die Demonstrationen in 250 französischen Städten. Das genaue Ausmaß der Beteiligung stand vorerst nicht fest. Schätzungen gingen aber erneut von mehr als einer Million Demonstranten und Demonstrantinnen in ganz Frankreich aus. Sie skandierten Parolen gegen die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre und verlangten den Rückzug des Reformwerkes.
Generalstreik in Frankreich: Leidtragende der Reform sind vor allem Frauen
Die Gewerkschaften und Linksparteien kritisieren die Reform als „sozial ungerecht“. Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron bestreitet dies mit dem Argument, sie erhöhe die Mindestrente von 960 Euro auf 1200 Euro im Monat.
Der Vorsteher der Gewerkschaft CGT, Philippe Martinez, meinte dagegen am Dienstag auf dem TV-Sender RMC, das Reformprojekt benachteilige generell die schlechter Verdienenden, die meist schon in jungen Jahren in die Arbeitswelt eingestiegen seien. Leidtragende seien auch die Frauen, die häufiger als andere auf eine „zerstückelte Karriere“ zurückblickten und deshalb keine Vollrente erhielten. Wegen ihren Kindern, aber auch aus anderen Gründen kämen sie seltener als Männer auf die neu verlangte Beitragsdauer von 43 Jahren.
Proteste zu Rentenreform in Frankreich: Borne verteidigt politische Linie
Unabhängigen Berechnungen zufolge müssen Frauen infolge der Erhöhung des Rentenalters effektiv zwei Jahre länger arbeiten, Männer dagegen nur anderthalb Jahre länger, um in den Genuss einer Vollrente zu kommen.
Premierministerin Elisabeth Borne versucht Gegensteuer zu geben: „Im Gegenteil, wir beschützen die Frauen, die nicht regelmäßig einbezahlt hatten, die schon früh gearbeitet hatten oder die eine kleine Pension beziehen.“ So erhielten Frauen einen Rentenbonus von bis zu zwei Jahren, wenn sie Kinder großgezogen hätten. Die neue Minimalrente von 1200 Euro im Monat komme zudem mehrheitlich – zu 60 Prozent – Frauen zugute, behauptet Borne, die für Macron die Kohlen aus dem Feuer holen soll, weil sich der unpopuläre Staatspräsident bei seiner eigenen Reform bewusst zurückhält.
Generalstreik in Frankreich: Rentenalter 64 ist „nicht verhandelbar“
Die Regierungsangaben werden von den Gewerkschaften in Abrede gestellt. Ungeschickterweise räumte Macrons Parlamentsminister Franck Riester selber ein, Frauen würden in der Reform „ein wenig benachteiligt“. Auch die konservative Zeitung Le Figaro rechnete vor, dass der Kinderbonus für Mütter durch die Rentenreform tendenziell sinke.
Borne bestreitet dies vehement. Gegen den allgemeinen Eindruck, dass Frauen von der Reform härter getroffen seien, kommt sie allerdings nicht an. Sie erklärt sich deshalb bereit, über Spezialkonditionen für Mütter und für Frauen mit unterbrochenen Karrieren zu sprechen. Die Wirkung der Reform für erwerbstätige Frauen wird damit zu einem Verhandlungsargument – und zur vielleicht letzten Hintertür für Konzessionen der Regierung. Das Rentenalter 64 ist laut Borne aber „nicht verhandelbar“.
Ob die Premierministerin damit ab nächstem Montag durch die mehrwöchige Parlamentsdebatte kommt, muss sich zeigen. 1995 war Premier Alain Juppé mit seiner Rentenreform am Widerstand auf der Straße gescheitert; 2010 brachte Präsident Nicolas Sarkozy das neue Rentenalter 62 jedoch gegen mehrere Großdemonstrationen durch. Derzeit ist der Ausgang offen. Die breite Protestfront von links bis rechts außen wirkt allerdings sehr entschlossen und in der Bevölkerung verankert. Wenn sich Macron durchsetzen will, wird er an seiner Reform noch etliche Abstriche vornehmen müssen. Die Frage der Frauenrenten könnte dabei eine wichtige Rolle spielen. (Stefan Brändle)