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Psychotherapie: Das lange Warten auf Hilfe

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Von: Sophie Vorgrimler

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Freudlosigkeit, Schlafprobleme, Antriebslosigkeit - das alles können Anzeichen einer Depression sein.
Freudlosigkeit, Schlafprobleme, Antriebslosigkeit - das alles können Anzeichen einer Depression sein. © PantherMedia / Jakub Krechowicz

Bereits vor der Corona-Pandemie mussten psychisch angeschlagene Menschen lange ausharren, bevor sie einen Therapieplatz bekamen. Der Notstand ist inzwischen noch schlimmer.

Es ist ein großer Schritt sich einzugestehen: Ich habe ein seelisches Problem. Und dann auch tatsächlich den Willen und die Energie aufzubringen, sich nach psychotherapeutischer Behandlung umzusehen. Doch wer etwa an einer Angststörung oder Depression leidet und endlich den Schritt wagt, sich Hilfe zu suchen, wird bei der Suche nach einer Therapie meist ernüchtert zurückgeworfen: Zwischen drei und neun Monaten sollen Betroffene in diesem Zustand dann noch ausharren.

So lange warten 40 Prozent der Menschen, bei denen eine psychische Erkrankung festgestellt wurde, in Deutschland auf einen psychotherapeutischen Behandlungsplatz, sagt Dietrich Munz, Psychotherapeut und seit 2015 Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Diese Zahl gehe aus eigenen Auswertungen von 300 000 Versichertendaten noch vor der Pandemie hervor.

Für die Patient:innen ist diese Wartezeit eine enorme zusätzliche Belastung. „Auch ohne Wartezeiten kommen viele Patientinnen und Patientinnen meist zu spät. Viele reißen sich zusammen und gerade depressive Menschen warten oft zu lange mit einer Behandlung“, sagt Munz. Schnell entstünde ein Teufelskreis. „Eine Depression kann nach sechs bis acht Monaten auch von alleine zurückgehen“, sagt er. Viele Menschen sagten ihren Therapeuten-Termin daher vor Ende der Wartezeit wieder ab, da es ihnen besser gehe. „Doch das Risiko, dass die Depression in einer weiteren Episode zurückkommt, erhöht sich mit jedem Mal und meistens ist sie dann massiver.“

35 872 Psychotherapeutische Praxen gibt es aktuell deutschlandweit, heißt es vom Bundesgesundheitsministerium. Diese Zahl habe sich in den vergangenen Jahren stark erhöht, 2011 seien es noch 23 622 gewesen. Warum viele Patient:innen dann trotzdem so lange warten müssen? „Zu den Wartezeiten auf einen Therapieplatz in der ambulanten Psychotherapie“ liegen dem Bundesministerium für Gesundheit „keine belastbaren Informationen vor“, heißt es auf eine Anfrage.

Auf dem Land ist die Lage am schlechtesten

Laut der BPtK liegen die Wartezeiten nicht an der Attraktivität des Berufs, also an zu wenigen arbeitsbereiten Psychotherapeut:innen. „Die Sorgetätigkeit empfinden viele als erfüllend“, sagt Munz. Es sei auch nicht die hohe Anforderung für das Studium – meistens braucht es für die Zulassung einen Abiturnotenschnitt von 1,0. Zwar sei die Vergütung im Vergleich zu ärztlichen Kolleg:innen nicht angemessen, dennoch sei Psychotherapeut:in ein begehrter Beruf. Aber: „Erst seit 1999 sind Psychotherapeuten als Heilberuf anerkannt und damit den Ärztinnen und Ärzten gleichgestellt“, sagt Munz.

Bis zu der offiziellen Anerkennung konnten Psychotherapeut:innen nur in Delegation durch Ärzte arbeiten. Das heißt: es war ausschließlich Ärzten erlaubt, Psychotherapien durchzuführen. Diplom-Psychologen, also nichtärztliche Therapeuten konnten im sogenannten Delegationsverfahren tätig werden. Dabei überträgt der behandelnde Arzt bestimmte Behandlungsleistungen an den nichtärztlichen Therapeuten.

Und schon als sich das 1999 änderte, habe es zu wenige kassenärztliche Zulassungen für psychotherapeutische Praxen gegeben, beklagt Munz. Er geht noch weiter und sagt: Der tatsächliche Bedarf sei von offizieller Stelle nie richtig ermittelt worden. Heute kommen in Großstädten auf 100 000 Einwohner:innen rund 35 Psychotherapeut:innen, in ländlichen Regionen etwa 19. Auch daran übt die Kammer Kritik: „Psychische Erkrankungen treten in Städten nur unwesentlich häufiger auf, als in strukturschwachen Gebieten“, so Munz.

Ein „Gemeinsamer Bundesausschuss“ ist nach Angaben des Bundesgesundheitsministerium für die Bedarfsplanung verantwortlich. Kein Teil des Ausschusses ist die Bundes-Psychotherapeutenkammer, aber es ist unter anderem die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) involviert. Bei der Bundespsychotherapeutenkammer macht man keinen Hehl daraus, dass man den Kassen unterstellt, die Zahl der Praxen zu begrenzen – vor allem um Kosten zu sparen.

Krankenkassen wollen Kosten sparen

Die Planung bewege „sich immer in einem Spannungsfeld zwischen den Forderungen nach mehr Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und der damit einhergehenden Kosten für das Gesundheitssystem.“ Darüber werde im Gemeinsamen Bundesausschuss immer wieder diskutiert, gibt die KBV auch zu.

Die KBV weist jedoch darauf hin, dass es „kein Land gebe, das eine so hohe Dichte an ambulanten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aufweist“ wie Deutschland. Ebenso sei der „niedrigschwellige, flächendeckende Zugang zur Versorgung“ hierzulande einmalig. Dennoch bestünden „selbst in Städten mit außergewöhnlich hoher Dichte an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten Wartezeiten.“

Und das obwohl 2019 weitere Zulassungsmöglichkeiten geschaffen wurden. Damals hatte der Bundesausschuss ein Gutachten in Auftrag gegeben, welches die Notwendigkeit von 2400 zusätzlichen Praxen ergeben hatte. In der anschließenden Reform seien aber nur 800 weitere Zulassungsmöglichkeiten deutschlandweit beschlossen worden, kritisiert die Therapeutenkammer. Laut der KBV werden „diese neuen Sitze nun erst in der Versorgung ankommen.“

Klar ist: Der Bedarf an psychotherapeutischen Behandlungen steigt stetig – auch schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. „Der Grund dafür ist nicht, dass die Menschen häufiger psychisch krank sind“, sagt Munz. In Industrieländern wie Deutschland haben fast 30 Prozent der Menschen innerhalb eines Jahres Symptome, die auf eine psychische Erkrankung schließen lassen. Die Zahl geht nicht auf tatsächlich durchgeführte Behandlungen zurück, sondern auf unabhängig davon abgefragte und ausgewertete Symptome. „Diese Zahl ist seit Jahren ziemlich robust.“

Hausärzte sind heutzutage sensibler

Woher kommt dann der Anstieg der Nachfrage? Zum einen schenkten „Hausärzte psychischen Erkrankungen größere Aufmerksamkeit“, sagt Munz. Öfter gingen diese der Möglichkeit nach, dass eine psychosomatische Erkrankung vorliegen könnte. Vor allem aber „suchen Kranke heute häufiger Hilfe“, sagt der Psychologe. „Das hängt stark mit der Entstigmatisierung von psychischen Leiden zusammen.“

Bei der Kassenärztlichen Vereinigung sieht man darin auch problematisches: Vor allem bei Jüngeren gebe es eine immer größere Nachfrage, heißt es von der KBV. „Gerade für diese jüngeren Patientinnen und Patienten ist psychotherapeutische Versorgung ein Stück weit „normal“ geworden und wird nicht mehr als stigmatisierend wahrgenommen.“ Bei der psychotherapeutischen Versorgung sei „die Unterscheidung nicht immer einfach“, was tatsächlich therapeutischer Behandlung bedürfe und was nicht. Auch zu diesem Zweck sei 2017 die Psychologische Sprechstunde eingeführt worden, sie diene der niedrigschwelligen Abklärung.

Auf dieses Angebot verweist auch der Präsident der BptK. Corona habe die Nachfrage nach psychotherapeutischer Behandlung noch einmal stark erhöht – und hat die Lage bezüglich der Wartezeiten verschärft. Auch stationäre Kliniken sind überlastet, es gibt lange Wartelisten. Einen erhöhten Bedarf bestätigen auch die Kassenärztliche Vereinigung sowie das Bundesgesundheitsministerium. Um „temporären Mehrbedarf zu decken“, heißt es vom Ministerium, können Sonderbedarfszulassungen erteilt werden. Davon würde aktuell Gebrauch gemacht, so die KBV.

Bei der Psychologischen Sprechstunde, für die meistens zwei knapp einstündige Termine vereinbart werden, kann individuell geklärt werden, wie schwer die Symptome sind und eine Einschätzung erfolgen, ob eine Therapie wirklich nötig ist, oder es andere Möglichkeiten gibt. Nur rund die Hälfte der Ratsuchenden beginne nach der Sprechstunde eine psychotherapeutische Behandlung, sagt Munz. Von diesen aber müssen viele ihre psychischen Probleme noch einige Zeit lang alleine aushalten. „Diese Wartezeiten sind inakzeptabel“, findet er. Im körperlichen Bereich seien diese undenkbar.

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